Splitterherz
und gegen die Wand krachte. Mein Wasserglas zersprang klirrend in tausend Scherben, die auf den nassen Holzdielen gleißend zu funkeln begannen.
»Hallo? Wer ist da?«, rief ich mit dünner Stimme. »Papa? Mama?«
Aber ich wusste, dass niemand hier war. Es war alles so wie vorher - das ruhige Haus, das Ticken der Uhr aus dem Wohnzimmer, das Knistern des Kachelofens. Alles unverändert, bis auf die Tatsache, dass ich jedes einzelne Geräusch hier oben hörte. Begann ich etwa, den Verstand zu verlieren? Angestrengt lauschte ich in mich hinein. Meine Gedanken hatten sich beruhigt. Der Angstknoten im Hauch löste sich, obwohl mein Herz unvermindert schnell vor sich hin galoppierte. Ja, die Angst war verschwunden.
Was war das für ein Flüstern gewesen? Stimmen zu hören, die nicht da waren, war keine Kleinigkeit - das wusste ich als Tochter eines Psychiaters nur allzu gut. Das Flüstern im Wald hatte ich mir im Nachhinein als meine Intuition verkauft. Doch diese Besänftigung eben hatte rein gar nichts mit Intuition zu tun.
Ich verließ fluchtartig das Haus und löste auf dem Weg zur Bushaltestelle mehrere schwierige, selbst konstruierte Rechenexempel. Anschließend ging ich im Kopf den Aufbau der DNS durch. Keine Hänger - es klappte wunderbar. Französische Konjugationen? Ebenfalls kein Problem. Mein Oberstübchen funktionierte also noch. Dann fiel mir ein, dass Papa mal erzählt hatte, Genie und Wahnsinn lägen oft sehr nahe beieinander, und ich ertappte mich dabei, wie ich bei diesem Gedanken grinsen musste.
Aber wenn die Stimme keine Einbildung war und einem lebendigen Wesen gehörte - wer sollte das gewesen sein? Ein Flüstern konnte man keinem bestimmten Menschen zuordnen, das hatte ich mal gelesen. Alle Stimmen flüsterten gleich.
Im Bus war die Hölle los. Einige Unterstufenschüler blockierten den Gang und beugten sich johlend über ein Handy. Offenbar versuchten sie, einem Mädchen mit derben Anzüglichkeiten ihre Gunst zu erweisen. Sie hatten also Empfang. Ich zog mein Handy aus der Tasche, doch es zeigte mir das immer gleiche Bild: ein flimmerndes Display und keine Funkverbindung. Verdammt. Ich lehnte meinen Kopf an die Scheibe, blendete das Geschrei mühsam aus und ließ die sonnenbeschienene Landschaft an mir vorüberziehen.
Sollte ich der Stimme Glauben schenken? Es war zu verführerisch. Sie hatte so beschwörend und sicher geklungen, dass mich die Erinnerung an ihre Worte, ja, auch an diese seltsam gedämpften, intensiven Sekunden von vorhin, weiterhin beruhigte. Nun, irgendjemand oder irgendetwas in mir wusste anscheinend, dass nichts passieren würde. Vielleicht half es, wenigstens ein bisschen daran zu glauben.
Es half genau bis zu dem Moment, als ich den letzten Punkt unter meine Hausaufgaben setzte und beschloss, Nicole und Jenny eine Mail zu schreiben und mir alles von der Seele zu reden, was mich bedrückte. Das war zwar in der Vergangenheit nie sehr befriedigend gewesen, weil meistens - falls überhaupt - nur wenige, fahrige Zeilen zurückkamen, die in mir das Gefühl auslösten, aufdringlich gewesen zu sein. Aber ich musste Zeit totschlagen.
Doch schon das Einloggen scheiterte. Unser Internet funktionierte immer noch nicht. Papa machte sich halbherzig daran zu schaffen und beschloss nach schlappen zehn Minuten, dass es wichtigere Dinge gab. Zum Beispiel Umzugskartons auspacken. Diese Kartons nahmen einfach kein Ende. Überall stolperte ich darüber, in den Ecken bauschte sich das Dämmmaterial zu graubraunen Haufen und ständig klapperte und klirrte und schepperte es irgendwo.
Also musste ich es über mein Handy probieren. Immerhin hatte ich eine Flat und das Tippen einer epischen SMS-Mail würde mit Sicherheit bis zum Abendessen dauern. Doch ich konnte es nirgendwo finden. Es war weder in meiner Schultasche noch in meinen Hosentaschen noch in meiner Jacke. Und weil ich das nicht glauben wollte, wühlte ich sie immer und immer wieder durch, bis mir der Schweiß auf die Stirn trat und ich vor Unmut Magenschmerzen bekam.
Ich musste systematisch vorgehen. Wann halte ich es zum letzten Mal benutzt - oder besser: versucht, es zu benutzen? Morgens im Bus. In der Pause war keine Zeit dafür geblieben, da Maike mich mit den neuesten Gerüchten versorgt hatte. Aber im Sportunterricht... Oh nein. Ich musste es im Sportunterricht vergessen haben. Wir hatten ausnahmsweise in der Vereinsturnhalle neben der Schule trainiert, weil bei uns die Lüftungen repariert
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