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Splitterherz

Titel: Splitterherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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langsam wieder imstande aufzustehen, doch ich hatte nicht einmal den Hauch einer Idee, wie ich diesen Abend vernünftig beenden sollte. Mir kam es vor, als sei ich Zigtausende Kilometer von zu Hause entfernt.
    Selbst wenn ich jemanden anrief, damit er mich abholte - und dieser Jemand konnte nur Papa oder Mama sein -, wie sollte ich ihm beschreiben, wo ich mich befand? Wo war überhaupt die nächste befestigte Straße? Frustriert blieb ich sitzen und zog die Knie noch dichter an meinen Körper. Colins Stiefelspitzen machten kehrt. Ich blickte ihnen nach, wie sie sich Schritt für Schritt von mir entfernten. Arschloch, dachte ich wutentbrannt. Was anderes als arrogante Bemerkungen hast du auch nicht parat, oder?
    Seine Schritte stockten.
    »Warte draußen auf mich. Ich fahre dich nach Hause.«
    Erstaunt schaute ich auf. Doch Colin war bereits spurlos ver­schwunden. Wahrscheinlich betüddelte er im Stall sein Höllenpferd.
    Ich erhob mich stöhnend. Mein linkes Bein war eingeschlafen. Mit einem pulsierenden Kribbeln kehrte das Blut zurück, als ich mich von der Tränke entfernte. Die Ponys waren wieder vollzählig und grasten friedlich vor sich hin, als wären Maike und die anderen nie hier gewesen. Mein Fahrrad stand nicht mehr am Gatter. Von mir aus, dachte ich gleichgültig. Dann ist es eben weg.
    Mit unbeholfenen Schritten stakste ich zu dem efeubewachsenen Torbogen, an dem eine marode gusseiserne Laterne angesprungen war und gelbliches Licht über die dunkelgrünen Blätter goss. Schräg über mir vollendete eine Spinne mit bebenden Beinen ihr Netz, ein makabres Kunstwerk aus tausend klebrigen, todbringenden Fäden. Schon hatte sich ein Nachtfalter darin verfangen. Verzweifelt schlug er mit seinen pudrigen Flügeln. Ob er wusste, dass er sterben musste?
    Zwei weiße, lange Finger griffen nach dem Falter und lösten ihn behutsam aus seiner Falle. Die Spinne blieb reglos hocken. Colin fuhr ihr beinahe zärtlich mit dem Daumen über den Rücken. »Du bekommst etwas anderes«, sagte er leise. »Es fliegen noch genügend kleine Biester durch die Dunkelheit.«
    Gebannt beobachtete ich, wie der Nachtfalter mit einem kaum sichtbaren Vibrieren seine Flügel schüttelte und sich an Colins Handrücken schmiegte. Ein völlig haarloser Handrücken, unter dessen weißer, reiner Haut bläuliche Adern pulsierten. Fast wider­willig löste sich der Falter und trudelte in die Finsternis davon.
    Colin hatte seine Kappe abgesetzt, das hatte ich eben am Rande meines Blickfelds wahrgenommen. Um seine staubbedeckten Stiefel strich schnurrend eine grau getigerte Katze. Es ist recht dämlich, einem Mann auf die Stiefel zu stieren, mahnte ich mich. Doch plötzlich hatte ich Angst, in sein Gesicht zu schauen. Obwohl ich es mir, wie ich mir eingestehen musste, so sehr gewünscht hatte. Nein, ich wünschte es mir immer noch. Ob Maike recht hatte? War er hässlich?
    Ich musste mich zwingen, den Kopf zu heben. Wie durch einen Magneten wurden meine Blicke nach unten gezogen, so sehr, dass es beinahe schmerzte, sie vom Boden zu lösen. Ein Quäntchen we­niger Willenskraft und ich wäre mit gesenktem Kopf stehen geblie­ben.
    Doch nun blickte ich Colin an.
    Ich taumelte rückwärts und stieß mit meinem Ellbogen an die zerfressenen Feldsteine des Torbogens. Mit dem, was ich sah, hatte ich nicht gerechnet. Mit einem hochmütigen Adelsgesicht oder ei­nem groben Antlitz - ja, vielleicht. Aber nicht hiermit.
    Ich konnte beim besten Willen nicht sagen, ob Colin schön war. Aber hässlich war er gewiss auch nicht. Er sah - anders aus. Anders als alle Männer, die mir bisher begegnet waren. Seine Augen waren schräg und tiefdunkel, wie die eines Indianers. Ein inneres Glühen ging von ihnen aus, ähnlich dem von Fieberkranken - doch weitaus gesünder und kraftvoller. Die Haut spannte sich hell und makellos über seine ausgeprägten Wangenknochen. Seine schwarzen, sym­pathisch chaotischen Haarsträhnen, dicht und bewegt, reichten bis zu seiner scharf geschnittenen, edlen Nase. Ein Gesicht wie aus tau­send Völkern gemischt, ein altes Gesicht - und doch so unfassbar jung.
    Emotionslos blickte er mich an und strich sich mit einer nach­lässigen Geste die widerspenstigen Haare aus der Stirn. Auch sie wirkte wie in Stein gehauen. In beiden Ohren trug er mehrere schlichte Silberringe - selbst ganz oben, wo es beim Stechen schmerzhaft wurde. Und dann waren da noch seine Lippen. Ich hatte selten einen perfekteren Männermund gesehen, das musste ich

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