Splitterherz
mühelos saß Colin im Sattel. Nein, er saß nicht - er verschmolz mit seinem Pferd. Der Schatten seiner Baseballkappe und das blaugraue Dämmerlicht verhinderten, dass ich sein Gesicht erkennen konnte. Aber seine fließenden, starken Bewegungen wirkten jung auf mich. Wie konnte er überhaupt genug sehen zwischen all den Hindernissen, kleinen Teichen, Büschen und Bäumen? Es war doch beinahe dunkel.
Wie eine jahrtausendealte, mystische Spukgestalt glitt Louis durch die duftende Dämmerung, während in den Bäumen eine Nachtigall zu einem eigenartig melancholischen Lied ansetzte.
Ein kalter Windstoß, der aus dem Nichts über den Platz fegte, brachte Louis’ lange Mähne zum Flattern, doch er selbst blieb ein in sich versammeltes, konzentriertes Pferdewunderwerk. An seinem Maul bildete sich allmählich Schaum und seine Flanken glänzten feucht. Nur Colin schien das harte Training nicht im Geringsten zu ermüden oder gar zum Schwitzen zu bringen.
Ich war unfähig, mich zu rühren. Ich musste ihnen zusehen, Pferd und Mensch, wenigstens für eine kleine Weile. Unauffällig lehnte ich mich an die efeubewachsene Stallwand. Hier würde Colin mich nicht entdecken. Versunken klammerten sich meine Augen an ihm fest und die Zeit blieb stehen.
Erst das penetrante Röhren eines Fliegers weit über uns riss mich aus meiner träumerischen Hypnose. Plötzlich spürte ich meinen
Körper wieder. Meine Augen brannten wie Feuer und tränten unaufhörlich und mein Mund war so staubig, dass ich nicht mehr schlucken konnte. Auf zitternden Beinen hastete ich zur Tränke. Es war mir gleichgültig, ob ich von Colin beobachtet würde oder nicht. Denn die Alternative bedeutete, bleich und leblos vor der Stallgasse zu liegen. Ich drehte den Hahn auf und hielt meinen glühenden Kopf unter das eisige Wasser. Mit der Zunge fing ich die herunterrinnenden Tropfen auf und zwang die Übelkeit mühsam zurück in den Bauch. Ich konnte wieder schlucken. Der bittere Geschmack in meiner Kehle war verschwunden.
Ich strich mir die triefenden Haare zurück und ließ mich mit dem Rücken zur Wand auf den Boden sinken. Umständlich drehte ich den Hahn zu. Zum Aufstehen war ich zu schwach. Niemals würde ich in diesem Zustand nach Hause gehen können. Niemals. Es schien mir sogar unmöglich, mein Handy aus der Tasche zu graben und jemanden anzurufen. Ich konnte mir durchaus vorstellen, mich hier, an Ort und Stelle, auszustrecken und bis zum Morgen zu schlafen.
»Du solltest hin und wieder etwas trinken.« Ich konnte das überhebliche Grinsen vor mir sehen, ohne aufzuschauen. Obwohl er völlig geräuschlos neben mir aufgetaucht war, hatte ich mich nicht erschreckt.
»Ach, geh zum Teufel, Colin«, knurrte ich. Er lachte nur.
Ich hatte keine Lust, nett zu sein. Schließlich war er auch nicht nett zu mir. Wenn er spielen wollte, sollte er mit jemand anderem spielen. Außerdem bekam ich Bauchschmerzen beim Gedanken an mein aktuelles Erscheinungsbild, das alles andere als elegant wirken musste. Ein Wassertropfen rann meine Wirbelsäule entlang und ließ mich am ganzen Leib erschauern. Ich schüttelte mich wie ein nasser Hund.
Colin stellte sich neben mich an die Tränke und begann seelenruhig, Louis’ Gebiss zu säubern. Dumpf starrte ich auf seine Stiefel und erschnupperte den urigen Duft sehr alten, gefetteten Leders.
»Du solltest nicht hier sein«, sagte Colin knapp.
»So, sollte ich das nicht«, erwiderte ich unwirsch. Ich stöhnte und bettete mein nasses Gesicht auf meine staubigen Arme. »Ich bin aber hier. Du musst schon einen Stacheldrahtzaun um dich herum errichten, wenn dir kein anderer Mensch gut genug ist.«
Oje. Ich redete schon wie Maike. Aber ich meinte es nicht so wie sie. Trotzdem hatte ich das Gefühl, noch etwas hinzufügen zu müssen. »Außerdem wollte Maike unbedingt mit mir ausreiten«, verteidigte ich mich. Ich wunderte mich, dass ich überhaupt komplette Sätze bilden konnte. Noch vor einer Minute war es mir kaum gelungen, klar zu sehen.
»Ach ja, Maike. Unsere Pferdeflüsterin.« Colins Stimme triefte vor Spott. »Hat sie versucht, dir einen ihrer lahmen Gäule aufzudrängen?«
»Erfolglos«, antwortete ich kühl.
»Auf denen lernt man nicht reiten. Die tragen dich nur herum.«
Okay. Colin unterrichtet keine Mädchen. Und auf Maikes Pferden lernt man nicht reiten. Das war wohl seine Art, mir zu sagen, dass ich nicht erwünscht war. Ellie, hier lernst du nichts. Deshalb: Zisch ab.
Ich fühlte mich zwar
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