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Splitterherz

Titel: Splitterherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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satt war, fielen mir wieder Colins eisblaue Augen ein.
    Eine Augenkrankheit. So, so.
    Ich spitzte die Ohren. Es war still geworden. Hatte sich Papa viel­leicht auf den Weg in die Klinik gemacht? Wenn ja, dann konnte ich in seinem Büro nach seltenen Augenkrankheiten und Lichtemp­findlichkeit recherchieren. Einen traurigen Moment lang erinnerte ich mich an die Mutproben von Paul und mir, denen wir uns mit vor Aufregung glühenden Wangen in Papas Arbeitszimmer stellten, wenn es draußen in Strömen regnete und wir vor Langeweile fast zugrunde gingen. Dann nahmen wir uns den Pschyrembel aus dem Regal und schlugen wahllos irgendeine Seite auf und wer am längs­ten auf das Foto gucken konnte, ohne zu blinzeln oder wegzuschau­en, hatte gewonnen. Nie vergessen würde ich die detailgetreue Auf­nahme einer schwarzen Haarzunge - eine abstruse, wenn auch seltene Nebenwirkung von Penizillin. Seitdem fühlte ich mich im­mer ein wenig beklommen, wenn ich Antibiotika einnehmen muss­te.
    Vielleicht gab es ja auch eine Abbildung von grell türkisblauen
    Augen, die eigentlich schwarz sein sollten. Doch Mamas erregte Stimme ließ mich innehalten, bevor ich die Klinke hinunterdrücken konnte. Neugierig presste ich mein Ohr an die Tür.
    »Du hast gesagt, hier wird alles besser - und jetzt das!«
    Es dauerte eine Weile, bis Papa reagierte.
    »Mia, es gibt keinen Grund zur Aufregung. Mädchen in diesem Alter werden gerne mal ohnmächtig.«
    Mädchen in diesem Alter. Ha. Und von gerne konnte wohl keine Rede sein. Trotzdem - mir war schleierhaft, warum Mama sich so erzürnte. Sie war doch auch sonst keine Übermutter.
    »Dann schwöre mir, Leo, schwöre mir, dass du nichts damit -«
    »Moment«, rief Papa scharf und riss die Tür auf. Er fing mich ab, bevor ich vornüberkippen konnte. Mit blitzenden Augen sah er mich an.
    »Kann ich dir irgendwie helfen, Elisa?«
    »Ich hätte mir gerne den Pschyrembel geborgt«, bat ich höflich. Mama schüttelte den Kopf und seufzte. Papa griff gezielt nach dem schweren Wälzer und drückte ihn mir in die Hand. Mama seufzte noch einmal.
    »Sie sieht doch gesund aus«, befand Papa aufgeräumt.
    »Sie geht jetzt auf ihr Zimmer«, verkündete ich und winkte kurz mit der Hand, bevor ich Mama und Papa den Rücken zuwandte und nach oben verschwand. Zu gerne hätte ich gefragt, was Mama damit gemeint hatte - dass hier alles besser würde. Etwa mit mir? Was war denn mit mir falsch gewesen in Köln? Oder war es gar nicht um mich gegangen?
    Wie auch immer - Papa hatte meinem Lauschangriff ein Ende gesetzt. Dennoch sorgte ich mich nicht allzu sehr um den Disput im Büro. Meine Eltern hielten seit jeher zusammen wie Pech und Schwefel. Spätestens morgen früh würden sie wieder ein Herz und eine Seele sein.
    Ich blätterte die Enzyklopädie wahllos durch, um immer wieder vor diesen entsetzlichen Fotos zu erschauern und schließlich ent­mutigt aufzugeben. Ich gab schnell auf, denn mich beschlich eine leise Angst, dass vielleicht ich diejenige war, der eine Diagnose ge­stellt werden musste. So oft schon war ich am Rande einer Bewusst­losigkeit entlanggekrochen, doch nie hatte sie mich packen können. Heute aber war es geschehen. Hatten Mamas Worte doch etwas da­mit zu tun? Wusste sie mehr als ich - vielleicht war ich ja von ir­gendeiner schleichenden, widerwärtigen Krankheit befallen, die meine Eltern mir bisher wohlweislich vorenthalten hatten und die sie hier auf dem Land kurieren wollten.
    Doch eigentlich fehlte mir nichts. Schwere Krankheiten deuteten sich anders an: unerklärlicher Gewichtsverlust, starke Schmerzen, Appetitlosigkeit. Und gelegentlich auch Ohnmächten. Aber eine Ohnmacht in ungewohnter sommerlicher Hitze nach versehentli­chem Hungern gehörte wohl nicht dazu. Und als ich das begriffen hatte, fühlte ich mich plötzlich noch elender.
    Ein hohles, sinnloses Gefühl machte sich in meinem Bauch breit und kroch kalt zu meinem Herzen hoch. Ich hatte zu nichts mehr Lust.
    Den gesamten schönen, sonnigen Tag lang, den Mama wie beses­sen dazu nutzte, weitere Teile des Gartens umzugraben, verbarrika­dierte ich mich in meinem Dachzimmer, zog die Stoffbahnen des Paravents zu und versuchte vergeblich, der Einsamkeit zu entkom­men, die sich wie eine alte, verwachsene Liane um meine Brust ge­wunden hatte.
    War ich wirklich so einsam, wie ich mich gerade fühlte, oder war es vielmehr die Erinnerung an meine frühere Einsamkeit, die mich belastete? Konnten Erinnerungen denn so schmerzen? Oder

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