Splitterherz
hatte mich am Ende alles wieder eingeholt?
Nachdem ich drei Stunden reglos auf dem Bett gelegen hatte, lernte ich für die anstehenden Klausuren, erledigte den Rest meiner Hausaufgaben und aß gespielt fröhlich mit meinen Eltern zu Abend.
Kurz überlegte ich, ob ich nachts versuchen sollte, in Papas Büro weiter nach Augenerkrankungen zu recherchieren, aber dann schob ich diesen Gedanken wieder zur Seite. Wenn Papa mich noch einmal dort entdeckte, hatte er wirklich Grund zur Sorge. Und es fiel mir schon schwer genug, so zu tun, als sei alles bestens, denn Mamas Blicke ruhten fast während des ganzen Essens auf mir.
Vor dem Schlafengehen kramte ich meine alten Moby-Alben heraus, mixte mir eine CD mit den sehnsüchtigsten, melancholischsten Songs - mein MP3-Player war ja leider dem Gewitter zum Opfer gefallen - und tat das, womit ich den Tag eigentlich hatte beginnen wollen: Ich setzte mir die Kopfhörer auf und suhlte mich ausgiebig in meiner schlechten Stimmung.
Kopfkino nannte ich das insgeheim. Sobald ich die Augen schloss und mich in die Musik hineinfallen ließ, zogen Filme vor meinen Augen vorüber. Hauptrolle: Elisabeth Sturm. Ich fühlte in diesen Filmen wie in meinem tatsächlichen Leben. Doch ich war eine andere. Ich war schöner und gelassener und witziger, und wenn ich ungerecht behandelt wurde, gab es immer Menschen, die sich für mich einsetzten. Die für mich durchs Feuer gingen. Vor allem einer war da ... Ich wagte kaum, seinen Namen zu denken, doch sein Gesicht tauchte wieder vor mir auf, wie so oft schon, seine verschmitzten grünbraunen Augen, sein kurz geschnittener Wuschelkopf und der gesunde rosige Schimmer, der stets auf seinen Wangen gelegen hatte. Grischa. Nie hatten wir miteinander geredet und doch gehörte er zu meinem Leben. Ich konnte es nicht ändern. Das gelang mir nur, wenn ich vollkommen wach war.
Aber nun durchdrang mich die Musik restlos, sodass ich das Gefühl hatte, meinen Körper verlassen zu können. Und obwohl ich glaubte, über mir zu schweben, wurden meine Sinne empfänglicher und klarer denn je. Ich spürte jede winzige Faser meiner Kuscheldecke auf der Haut, die Bündchen der Socken an meinen Fesseln, ich roch die aufgewühlte Erde aus dem Garten, ja, ich konnte sogar die sinkende Temperatur vor dem Fenster erahnen, das süße Aroma der Tautropfen und den staubigen grauen Duft der Straße.
Als ich aufwachte, war es finster und still. Die Stöpsel schmerzten in meinen Ohren und ich riss sie mit einem Ruck heraus.
Mein ganzer Körper war von einer wehmütigen Schwere erfüllt, die mich nach draußen in die Nacht zog. Ich sah mir dabei zu, wie ich meine nackten Füße aus dem Bett schob, auf den kühlen Boden setzte und zur Tür ging. Meine Sohlen berührten kaum den Boden. Lautlos und schwebend bewegte ich mich die beiden Treppen hinunter, öffnete die Tür des Wintergartens und trat ins Freie. Die Stufen der Außenstiege waren eisig, doch es störte mich nicht.
Im Garten stand Colin, mit dem Rücken zu mir. Er trug seine Jeans vom Vormittag und einen wolligen grauen Fleecepullover. Seine Haare wanden sich stur und lebenslustig in alle Himmelsrichtungen und der Schimmer des Mondes ließ seinen Nacken silbern leuchten.
Ich wusste, dass ich nichts sagen musste. Die Schwere in meinem Körper, in meiner Seele, wurde zu einem mächtigen Sog, der mich zu ihm trieb. Als ich ihm so nahe war, dass ich ihn hätte berühren können, drehte er sich um.
Ich sah in seine Augen und drohte zu fallen. So dunkel, so tief ...
Ich bin wirklich einsam, dachte ich und hörte nicht auf, in seine Augen zu schauen, obwohl der Abgrund schon so nahe war.
Ich weiß, sagten mir seine Gedanken. Ich lehnte den Kopf an seine Brust und der weiche, ausgewaschene Stoff des Pullis schmiegte sich an meine Wange. Er schloss seine Arme um mich, stark und bestimmt, und die Schwere in mir begann sich aufzulösen. Seine Hände legten sich fest auf meinen Rücken, wie ein Schauer streifte sein Atem meinen Hals.
Mit einem bohrenden Schmerz gruben sich seine Fingernägel in mein Kreuz. Ich roch Blut und spürte jeden einzelnen rubinroten Tropfen, der sich aus meiner Flaut befreite und meine Wirbelsäule hinunterrann. Colin drückte mich rücklings zu Boden.
Ich ließ es zu - und ließ auch zu, dass sich seine Klauen, seine spitzen, schmerzenden Klauen, in die weiße Haut über meiner Brust kerbten. Es musste so sein. Seine Gedanken zu meinen. Unsere Gefühle ein einziger
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