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Splitterherz

Titel: Splitterherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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schweifen. Von den Mülltonnen drangen grö­lende Rufe und kreischendes Gelächter zu mir herüber. Ohne nach­zudenken, lief ich dem Lärm entgegen. Auf halber Strecke rempelte mich im Vorbeirennen ein Junge an, nicht älter als zwölf. Beißender Müllgestank stieg aus seinen Klamotten auf und an seinem Rücken klebte eine vergammelte Bananenschale. Seine Wangen glühten, doch alles in allem wirkte er aufgeregt, nicht aber verstört. Ganz offensichtlich hatte ihn jemand in die Mülltonne gesteckt - das alte, beliebte, hässliche Spiel. Und er hatte sich befreien können. Aber ein ungutes Flattern in meinem Bauch sagte mir, dass das nicht alles
    war. Die Stimmen um die Mülltonnen herum wurden lauter. Eine Traube von gaffenden Schülern versperrte mir die Sicht auf das, was sich dort abspielte und die Neugierde der Umstehenden weckte. Obwohl ich Fremde nicht gerne berührte, zwängte ich mich mit wenigen Schritten hindurch.
    Ein Blick genügte, um zu sehen, dass die Tonnen leer waren. Das war also nicht das Problem. Das Problem war ein auffallend rothaa­riger Schüler, der Auge in Auge einem Jungen aus der Oberstufe gegenüberstand. Genau, das war Oliver, aus meinem Deutschkurs. Ein bulliger, quadratischer Typ, den ich sofort als unangenehm und rechthaberisch empfunden hatte, Er überragte den Rothaarigen um gut zwei Köpfe.
    »Misch dich nicht ein, Tillmann«, sagte Oliver drohend und stieß den anderen ein Stück von sich weg. Tillmann blieb ruhig, doch ich spürte, dass er eine tickende Zeitbombe war. Nicht nur das - alles in ihm befand sich in Aufruhr. Tausend Empfindungen rasten auf mich ein. Wut, Ekel, Abscheu - und auch Angst. Warum Angst?
    »Hört auf mit der Scheiße«, entgegnete Tillmann mit einer über­raschend tiefen, erwachsenen Stimme. Wie alt mochte er sein? Nach seiner Größe zu urteilen, höchstens Mittelstufe. Ich näherte mich, bis ich seine Augen sehen konnte, obwohl der Müllgestank mir fast den Atem raubte - säuerliche Milch, nasses Toilettenpapier, faulen­des Obst, verdorbene Wurst und Taubenkot. Tillmanns Gesicht war unbewegt, doch in seinen dunklen, schmalen Mandelaugen toste der Zorn.
    »Ist das dein neuester Tick? Weltverbesserer spielen?« Oliver lach­te höhnisch und ein paar Jungs lachten mit. »Ausgerechnet du?«
    Blitzschnell schoss Tillmanns Hand nach vorne und packte Oli­vers Hemdkragen. Oliver fuhr zurück. Seine Füße verhedderten sich und für einen Wimpernschlag sah es aus, als würde er zu Boden gehen. Dann fing er sich wieder.
    »He!«, brüllte er und versuchte, Tillmanns Hand von seinem Kra­gen zu lösen. »Drehst du jetzt völlig ab, oder was? Jetzt mach dich mal locker, wir haben nur ein bisschen Zwergenwerfen gespielt.«
    »Zwergenwerfen ist kein Spiel. Das ist Feigheit und sonst nichts.«
    Ganz langsam öffnete Tillmann seine Faust, bis Oliver freikam. Wachsam beobachtete er Olivers Mimik, aber ich sah, wie seine Brust sich verkrampfte. Ein kaum wahrnehmbares, krankhaftes Rauschen durchströmte seine Lungen. In seinen Augen flackerte Panik auf.
    »Mach nur einen einzigen Fehler, Kleiner«, raunte Oliver, »und du warst die längste Zeit an dieser Schule. Verstanden? Ja? Ich sorg dafür, dass du kein Bein mehr auf den Boden kriegst.«
    Tillmanns Fäuste ballten sich, bis die Knöchel weiß hervortraten. Oliver schob seinen Kopf nach vorne, sodass seine Nase Tillmanns Haarspitzen berührte, und atmete ihm mitten ins Gesicht. Er roch nach Knoblauch und kaltem, ranzigem Schweiß.
    »Lass ihn in Frieden!«, rief ich scharf. Ein verwundertes Raunen machte sich breit, dann wurde es beklemmend still. Oliver reagierte zuletzt. Ungläubig glotzte er mich an. Tillmann ließ ihn nicht aus den Augen.
    »So. Die Neue.« Oliver grinste amüsiert. »Willst du jetzt eine von Papas Therapiestunden mit mir abhalten?« Seine Freunde feixten. »Oder mich in eine Zwangsjacke stecken?« Er wedelte albern mit den Armen.
    »Ich will, dass du ihn in Ruhe lässt. Und hör auf, Kinder in Müll­tonnen zu schmeißen. Such dir jemand Gleichaltrigen zum Spie­len.«
    »Pfff«, machte Oliver verächtlich und spuckte aus.
    Ich war so wütend, dass ich am liebsten laut geschrien hätte. Mei­ne Augen begannen verräterisch zu brennen. Doch meine Aufmerk­samkeit galt Tillmann. Sein Atem rasselte. Ein merkwürdiges  Keu­chen drang aus seinen Lungen. Hörte das denn niemand außer mir? Ich drehte mich zu den Schülern hinter mir um. Sie blickten mich an, als hätte ich ihnen gerade erzählt,

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