Splitterherz
samtschwarzer Kosmos. Ungezügelt und schön.
Jetzt fiel ich -
und wachte auf. Ich stand mitten in meinem Zimmer und hatte die Arme ausgebreitet. Ja, es war Nacht, der Mond schien, ich war barfuß. Aber ich war in meinem Zimmer.
Und ich war allein. Eine Weile blieb ich so stehen, unfähig, mich zu bewegen oder zu entscheiden, was ich tun sollte. Es kam mir nicht so vor, als sei ich aus dem Bett aufgestanden und hierher getreten. Nein - ich hatte das Gefühl, eine lange Reise hinter mich gebracht zu haben.
Und Colin? Er war doch da gewesen - ich hatte ihn doch gespürt! Sein Pulli. Ich wusste noch genau, wie er sich anfühlte - und dann sein Atem an meinem Hals. Seine Hände in meiner Haut... In meiner Haut?
Ich stürzte zum Lichtschalter, knipste alle Lampen an und rannte ins Badezimmer. Hektisch zerrte ich mir das Nachthemd über den Kopf und versuchte, mithilfe eines Handspiegels meinen Rücken zu betrachten. Er war unversehrt. Keine Klauenspuren. Kein Blut.
»Gott, Elisabeth, reiß dich zusammen«, fauchte ich mich entnervt an, als ich mein Gesicht im Spiegel sah. »Das war ein Traum, ein verdammter, blöder Misttraum.«
Ich streckte mir die Zunge raus. Ich sah aus wie immer. Gut, nicht ganz wie immer - meine Haare hatten sich dazu entschlossen, die Frisur des Suppenkaspars zum letzten Schrei zu erklären, und meine Augen waren in den gesamten letzten drei Jahren nicht mehr so lange ungeschminkt gewesen. Doch ansonsten war das ich, mit meinem üblichen Gesicht und - im Gegensatz zu Herrn Blackburn heute Morgen - ganz normaler Augenfarbe. Papas Dunkelblau mit grünbraunen Sprenkeln von Mama. Eine ziemlich kranke Mischung. Darunter meine blasse Nase mit den verirrten Leberflecken und mein Mund, ernst und ein wenig trotzig. Alles wie gehabt. Meine Fantasie war mal wieder mit mir durchgegangen. Ich hatte nur geträumt.
Ich wusch mir das Gesicht, unternahm einen hoffnungslosen Versuch, meine Haare zur Vernunft zu bringen, und war währenddessen eifrig damit beschäftigt, mich in die Realität einer ganz normalen Westerwälder Juninacht zurückzutransportieren. Doch noch immer konnte ich den Pulli an meiner Wange fühlen und sehnte mich unbändig nach diesem vollkommenen, gelösten und geborgenen Gefühl, das Colins Umarmung in mir hervorgerufen hatte. Wie konnte etwas so real sein, wenn es doch nur ein Traum war?
Ich fand es kindisch und albern und ich schlotterte bereits vor Kälte, doch ich tapste die dunklen Treppen hinunter, schnappte mir Colins Jacke von der Garderobe, flitzte wieder hoch und kuschelte mein Gesicht hinein, bevor ich das Licht ausknipste. Nein, stopp. Nur sicherheitshalber. Noch einmal Treppe hinunter, diesmal in den Wintergarten. Klar - was hatte ich erwartet. Es stand niemand auf dem umgegrabenen Rasen. Still und öde breitete sich unser Garten vor mir aus. Nur ein paar hellrosa Blüten von Nachbars Fliederbusch schwebten wie Schnee über den frischen Beeten.
Mein Herz schlug höher, als ich hinten, unter den Büschen, doch ein Lebewesen erkannte. Kein Mensch, kein Mann, kein Colin - sondern eine schwarze Katze. Wie ein Panther, federnd und kraftvoll, überquerte sie unseren Rasen und verschwand über den Hof - nicht ohne kurz innezuhalten und meine Gestalt im Fenster zu fixieren.
»Mister X?«, fragte ich flüsternd. Quatsch. Blödsinn. Nicht jede schwarze Katze war Mister X. Wir lebten in einem Dorf. Hier vermehrten sich Katzen wie Unkraut.
Erneut schlich ich die Treppe hoch, vergrub mich unter die Bettdecke und drückte mein Gesicht in Colins Kapuzenjacke. Augenblicklich schlief ich ein. Und träumte nichts mehr.
Unter die Haut
Ich war dankbar, dass am folgenden Montag - einem durchschnittlichen, trüben Tag - eine vierstündige Biologiekursarbeit anstand. Das war etwas, was ich definitiv mit Verstand und Vernunft bewältigen konnte, und ich stürzte mich mit wirrem Haar und Fiebereifer auf die Aufgaben. Nach drei Stunden war ich fertig, nutzte die verbliebene Zeit aber, um an meinen Diagrammen zu feilen. Irgendwann war der Punkt gekommen, an dem es nichts mehr zu tun gab. Ich lieferte die Klausur wenige Minuten vor dem Klingeln ab und verließ den Saal.
Im Schulhof war bereits einiges los - offenbar gab es Freistunden. Als ich zum Kiosk ging, ließ mich ein plötzlicher Impuls mitten auf dem Weg stoppen, obwohl mein Magen vor Hunger knurrte. Irgendetwas stimmte hier nicht. Ich drehte mich um und ließ meine Augen über den Hof
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