Splitterherz
stockdunkel.
Ich war eingepfercht zwischen fremden Menschen, und wenn jetzt ein Kabel durchbrannte und Feuer ausbrach, wäre keiner daran interessiert, mich zu retten. Sie würden mich niedertrampeln. Schon wallte Panik in mir auf. Ich bekam Angst, nicht mehr atmen zu können.
»Komm mit nach draußen«, hörte ich Colins Stimme ganz nah an meinem Ohr. Ich griff ängstlich neben mich, doch hier war niemand. »Komm mit. Folge mir.«
Wo war er? Jemand rempelte meine Schulter. Ich roch herben Männerschweiß und spürte eine schwitzige Hand an meinem Arm. Angeekelt fuhr ich zusammen. Das war nicht Colin. Ich setzte meine Füße nach vorne, ohne zu wissen, wohin ich gehen sollte. Wie konnte ich ihm folgen, wenn ich ihn nicht sah? Die Leute um mich herum scherzten, doch ich konnte nackte Angst zwischen den bemühten Witzeleien wittern. Hier hatten Menschen Angst. Und wahrscheinlich hatten sie auch vor dem Stromausfall schon Angst gehabt, ohne es zu wissen. Es hatte mit Colin zu tun. Wenn es zu viele waren, würde Chaos ausbrechen. Massenpanik.
Also lief ich einfach. Ich hatte vollkommen die Orientierung verloren, aber meine Füße führten mich durchs Dunkel, als würden sie magnetisch gezogen. Kein einziges Mal stieß ich gegen eine Wand oder einen anderen Menschen, solange ich nur lief und nicht stehen blieb. Dann drückte ich mich gegen eine Tür und kühle, süße Nachtluft füllte meine Lungen. Ich war frei. Meine Augen sahen wieder.
Colin lehnte auf dem Parkplatz an seinem schweren Auto, als würde er auf mich warten. Wie automatisiert schritt ich zu ihm hinüber, ohne zu wissen, was ich eigentlich sagen sollte. Schließlich hatten wir heute Abend noch kein Wort miteinander gewechselt. Jedenfalls nicht auf die Weise, wie es andere Menschen taten. Und außerdem war ich ja eigentlich noch wütend.
In der Disco sprang das Licht wieder an. Die Leute johlten und klatschten, bis das Wummern der Bässe sie übertönte.
Eine Weile standen wir uns stumm gegenüber.
»Es sah schön aus, wie du getanzt hast«, sagte Colin schließlich leise. Ein Kompliment - er machte mir ein Kompliment? Oder spottete er?
Du auch, wollte ich sagen, doch ich brachte nur ein trockenes Husten zustande. Mein Blick rutschte auf ein Stück nackte weiße Haut, das mir aus seinem offenen Hemdkragen entgegenblitzte. Ich schwankte leicht. Mit äußerster Mühe zwang ich meine Hände in die Potaschen meiner Jeans. Um Himmels willen. Beinahe hätte ich ihn einfach so angefasst. Und ich hatte noch nie einen Jungen einfach so angefasst. Das war mein eisernes Gesetz. Nie aufdringlich sein. Nie den ersten Schritt machen. Und schon gar nicht bei jemandem, der nur noch nach einer Fliegenklatsche sucht, die groß genug ist.
»Weil es echt war. Das warst du. Und niemand sonst«, fuhr Colin fort. Das klang eigentlich nicht so, als würde er nach einer Fliegenklatsche suchen. Aber meine Stimme streikte erneut.
Mit einem Mal fuhr ein kalter Windstoß durch meine Haare. Für den Bruchteil einer Sekunde ließen eisige Schauer meinen Körper schlottern. Colin wandte seinen Blick ab.
»Steig ein, ich fahre dich nach Hause.« Ach so, ja, na klar. Doch merkwürdigerweise fand ich ein obskures Vergnügen daran, mich seinem Befehl zu fügen. Eine träge, lockende Schläfrigkeit breitete sich in mir aus. Als ich mich bereitwillig auf den kühlen Ledersitz sinken ließ, fiel mir trotz meiner gemächlich dahinschwappenden Gedanken Papas Bitte wieder ein. Er würde es sehen, wenn Colin mich ablieferte - ich musste ihm seinen Wunsch erfüllen, sofern er noch wach war. Aber das war er sicherlich.
»Du«, begann ich vorsichtig. Ja, es klappte. Ich konnte wieder sprechen. »Mein Vater möchte gerne wissen, wer dieses Monster fährt, mit dem ich nun schon zum dritten Mal nach Hause gebracht werde.« Ich zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Meine Mutter hat uns gesehen. Kannst du ihm kurz Hallo sagen?«
»Klar«, meinte Colin gleichmütig, doch sein mokantes Feixen blieb mir nicht verborgen.
»Was gibt’s da so blöd zu grinsen?«, murrte ich.
Das Grinsen verwandelte sich in ein melodisches Lachen.
»Du liebst deinen Vater sehr, oder? Ein anderes Mädchen würde mich einfach bitten, es eine Ecke vorher rauszulassen.«
»Natürlich liebe ich ihn«, entgegnete ich trotzig. Was meinte er wohl mit »anderes Mädchen«? War das sein Hobby - minderjährige Mädchen heimzufahren?
»Das ist gut«, erwiderte er und der belustigte Ton war aus
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