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Splitterherz

Titel: Splitterherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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ausgesperrt.
    Der Song war viel zu schnell vorüber. Blind zog ich mich von der Tanzfläche zurück und lehnte mich an die Wand, bevor ich langsam die Augen öffnete.
    Ich war nicht mehr alleine. Während der Bass und mein Herz im Gleichklang dröhnten, zog es mich haltlos in das flackernde Schwarz von Colins Augen. Der Sog seines glühenden Blicks war so stark, dass ich mich nicht dagegen wehren konnte.
    Er stand mehrere Meter entfernt an der Wand gegenüber und doch war er mir so nahe, dass ich glaubte, ihm etwas zuflüstern, ihm seine dunklen Haarsträhnen aus dem Gesicht streichen zu können, mit einer einzigen leichten Bewegung. Ein ironisches Lä­cheln spielte um seine Mundwinkel und seine Kohleaugen muster­ten mich unverfroren.
    Der DJ kämpfte mit seinem Mischpult. Es knackte ein paarmal und ich hörte ihn fluchen, obwohl er das Mikro ausgeschaltet hatte. Dann gab er wutschnaubend auf, nahm einen tiefen Schluck Bier und starrte trüb auf die Tanzfläche. Die Musik, die jetzt lief, war kühl und technisch und dennoch eigentümlich sehnsüchtig. Ich kannte sie nicht, aber sie war mir so vertraut, dass ich hätte mit­summen können. Fast war ich versucht, wieder zu tanzen - doch dann hätte ich mich von Colins Blick lösen müssen. Und das wollte ich nicht. Obwohl ich immer noch wütend auf ihn war, schaute ich ihm herausfordernd in die Augen. Plötzlich füllten wilde Bilder meinen Kopf, kurze Aufnahmen wie aus einem Filmtrailer. Bilder aus einem Leben, das ich nie geführt hatte. Ich sah graue U-Bahn- Schächte, in denen die Menschen tanzten, junge Männer und Frau­en mit hochgeföhnten Frisuren, zu großen Sakkos, blassen Gesich­tern und spitz zulaufenden Boots. Ich sah in die Augen eines Mädchens mit fedrigem schwarzem Schopf und wollte ihre weichen Lippen küssen. Ich sah meinen Händen und Füßen zu, wie sie Schlagzeug spielten, kraftvoll und locker, während Kunstnebel mei­ne Nase kitzelte, und all das erfüllte mich mit tiefster Zufriedenheit. Ich fühlte Glück. Glück und Leichtigkeit. Irritiert fasste ich mir an meine Augen, doch sie waren offen. Was passierte da mit mir?
    Ich schaute wieder zu Colin. Ein wehmütiger Ausdruck trat in sein Gesicht, als würden die Songs Erinnerungen heraufbeschwö­ren. Doch das konnte nicht sein. Er war zwanzig, also kam er 1989 auf die Welt, rechnete ich fix aus. Und da war diese Welle schon vo­rüber, das wusste ich in diesem Moment - woher auch immer. Ich wusste es einfach. Genauso wie ich auf Anhieb den Song erkannte, den das Mischpult sich nun in seinem Amoklauf aussuchte. Ich sah das Plattencover vor mir. Being Boiled von Human League. Dieses Cover hatte ich nie in den Händen gehalten und doch sah ich es so überdeutlich, dass ich es hätte nachzeichnen können.
    Colin lauschte, legte den Kopf zurück und senkte die Lider. Seine langen Wimpern warfen Schatten auf die bleichen Wangen. Dann löste auch er sich von der Wand. Noch nie hatte ich einen Mann so wie ihn tanzen sehen. Ich konnte nicht sagen, wann und ob seine Füße überhaupt den Boden berührten. Eine unterschwellige Span­nung ging von ihm aus, die mich am ganzen Körper mit einem elektrischen Flimmern überzog, und die verbliebenen Tänzer wi­chen automatisch vor ihm zurück. Hin und wieder fielen die Disco­spots funkensprühend aus, sodass das Schwarzlicht Colins Hemd geisterhaft bläulich aus dem Dunkel aufleuchten ließ - und merk­würdigerweise auch das Funkeln unter seinen halb geschlossenen Lidern.
    Die Gesichter der anderen verzogen sich zu Fratzen, ihre Augen wurden eng und gemein. Ich sah, wie sie hinter vorgehaltenen Hän­den abfällig zu reden begannen. Neid und Eifersucht waberten gift­getränkt durch die stickige, verrauchte Luft. Sogar Maike warf er­zürnte Blicke hinüber. Nur Tillmann schaute Colin ruhig und sehr aufmerksam zu.
    Colin waren die anderen so gleichgültig wie mir. Er tanzte lässig, cool und, ja, ich musste es gestehen - er war auch das, was man wohl gemeinhin als sexy bezeichnete. Er wusste genau, was er tat. Und doch wirkte er selbstvergessen. Er tauchte in etwas ein, was ich nicht kannte, was mir verborgen blieb. Er schottete sich ab. Er war woanders - weit, weit weg.
    Komm zurück, Colin, dachte ich instinktiv, geh nicht weg. Bleib bei mir.
    Die letzten Takte verklangen. Der DJ wollte den nächsten Song starten, aber es tat einen lauten Knall, die Boxen machten ein sono­res Blobb und alle Spots erloschen, auch die Schwarzlichtleuchte. Es war

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