Splitterndes Glas - Kriminalroman
als eng bezeichnen würde. Scheiße, dachte sie, ich komme höchstens auf sechs.
Von den Personen auf McKusicks Liste waren drei im Stadtteil Clarendon Park in Leicester zu Hause, wo Bryan früher gelebt hatte, ein anderer im nicht weit entfernten Stoneygate; vier waren Kollegen aus den Jahren, in denen er an der De Montfort University unterrichtet hatte, nur ein Name hatte mit seinem neuen Posten zu tun. Zwei der Namen, einer mit einer Adresse in Warwick, der andere in Norwich, hatte McKusick mit einer Notiz versehen, die sie als Filmautor beziehungsweise Filmhistoriker beschrieb. Der letzte Name, ebenfalls kommentiert und die einzige Frau auf der Liste, war Siobhan Banham, offenbar eine alte Schulfreundin, die in London lebte.
Helen hatte mit den meisten von ihnen selbst gesprochen, entweder persönlich oder am Telefon; weitere Ermittler hatten alle bis auf drei befragt. Niemand hatte bislang irgendetwas erwähnt, was das Bild von Stephen Bryan erschüttert hätte: ein fleißiger und enthusiastischer Mensch, begeistert von seinem Fach, großzügig zu seinen Freunden, fröhlich und allgemein beliebt. Auch hatte niemand, schwul oder hetero, der Idee Nahrung gegeben, dass Bryan promisk gewesen wäre. Seine Beziehung zu Mark McKusick hatten sie als gut und entspannt bezeichnet; gelegentlich eine Meinungsverschiedenheit, klar, aber alles in allem schienen die beiden gut miteinander auszukommen. Ein bisschen wie ein altes Ehepaar, hatte jemand gesagt. Dabei hatte Helen die Ohren gespitzt: Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass die meisten glücklich verheirateten Paare weniger glücklich verheiratet waren, als sie schienen.
Der Dozent an der Anglia Ruskin University hatte gefragt, ob sie schon mit Jack Rouse gesprochen habe, der |83| auch dort unterrichtete und den Bryan anscheinend recht gut gekannt hatte.
Helen hatte nicht mit ihm gesprochen: Sein Name war nicht auf der ursprünglichen Liste gewesen.
In den letzten Tagen hatte sie mehrmals versucht, mit Rouse Kontakt aufzunehmen, aber nie hatte sich unter der Nummer, die man ihr gegeben hatte, jemand gemeldet, und die Universität war nicht in der Lage gewesen, ihn aufzuspüren. Ohne große Hoffnung wählte sie die Nummer noch einmal, aber diesmal wurde beinahe sofort abgenommen.
»Hallo?«
»Jack Rouse? Ich möchte gerne mit Jack Rouse sprechen.«
»Das bin ich.« Die Stimme war recht tief und weich.
»Hier spricht DS Walker, Polizei von Cambridgeshire.«
»Verstehe. Wie kann ich behilflich sein?« Ein Hauch von einem Akzent. Amerikanisch?
»Sie kennen Stephen Bryan, glaube ich?«
»O ja.«
»Sie waren Freunde?«
»Würde ich sagen. Zumindest begann sich eine Freundschaft zu entwickeln. Furchtbar, was passiert ist. Ich mochte ihn sehr.«
»Könnten wir vielleicht miteinander sprechen?«
»Über Stephen?«
»Ja.«
»Sicher. Nur muss es bald sein. Übermorgen fliege ich nach Chicago.«
»Wann passt es Ihnen am besten? Ich könnte es eigentlich fast immer einrichten.«
»Dann heute. Wie ist es mit heute?«
»Gut.«
|84| »Kennen Sie das Fitzwilliam-Museum?«
»Natürlich.«
»Heute Mittag findet ein Konzert statt. Cembalo. Es ist gegen zwei zu Ende. Können wir uns danach treffen?«
»Wie finde ich Sie?«
»Das Konzert ist im ersten Stock, in dem langen Raum, der die beiden Teile des Gebäudes verbindet. Auf der Nordseite finden Sie einige Ausstellungssäle, die der französischen und der britischen Malerei gewidmet sind. Ich werde in Nummer fünf sein, neunzehntes und zwanzigstes Jahrhundert. Sie finden mich in der Ecke direkt hinter der Tür bei den Vuillards.«
Lesley – leicht nervös, ohne zu wissen, warum – kam zu früh zu ihrer Verabredung mit Mark McKusick, während er gut zwanzig Minuten zu spät kam. Als er endlich eintraf, saß sie an einem der Fenster im oberen Stock und hatte ihren ersten Kaffee fast ausgetrunken, den ›Guardian‹ durchgeblättert und mit dem ›Independent‹ angefangen; beide Zeitungen lagen im Café aus.
Sie stand auf, um ihn zu begrüßen, und sie umarmten sich kurz, wobei sich McKusick für seine Verspätung entschuldigte: zu viele Traktoren vor und hinter Melton Mowbray, es wäre besser gewesen, über Grantham zu fahren. Die Kellnerin wartete, bis sie sich gesetzt hatten, erst dann kam sie, um ihre Bestellung aufzunehmen.
Sie redeten über Belangloses, bis ihr Kaffee kam, und dann konnte Lesley nicht mehr an sich halten und legte los. »Du hast Stephen doch auch gesehen? Nach … die Leiche,
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