Splitterndes Glas - Kriminalroman
noch Gedanken machte, wie – oder ob – sie ihn abwimmeln sollte, hatte er ihr schon ein Küsschen auf die Wange gedrückt und war verschwunden.
»Wir sehen uns demnächst«, hatte er dabei gesagt, und Lesley wollte das nicht mehr ausschließen. Vielleicht hatte sie ihn falsch eingeschätzt; vielleicht war er doch nicht so ein Arschloch, wie sie gedacht hatte.
Wir machen alle Fehler, wie Lesley sich später sagte, aber in diesem Fall war es ein Fehler, der korrigiert werden konnte. Sie heiratete ihn, und nach sechs Jahren waren sie geschieden. Im Nachhinein war Lesley erstaunt, dass es überhaupt so lange gedauert hatte. Zum Glück hatten sie keine Kinder.
Inzwischen arbeitete sie für BBC Radio Nottingham, während Scarman den Journalismus zugunsten des zunehmend lukrativen Felds der Public Relations aufgegeben hatte und im Abheben begriffen war.
Nach der Scheidung konnte Lesley den Leiter des Senders dazu überreden, sie ein paar Monate ohne Bezahlung zu beurlauben: Singapur, Tonga, Australien und schließlich ihr Lieblingsziel Neuseeland. Während sie dort war, nahm sie Kontakt zu mehreren Rundfunkproduzenten auf, und sobald sie nach England zurückgekehrt war, begann sie mit der Ausarbeitung eines Plans für einen einjährigen Aufenthalt. Es dauerte seine Zeit, aber schließlich tauschte sie Großbritannien gegen Neuseeland und komoderierte die Nachmittagssendung. Einmal, als sich der gefürchtete Kim Hill krankgemeldet hatte, durfte sie sogar die Sendung am Samstagmorgen machen und Peter Jackson interviewen, dem sie zwischen den Musikstücken, die er sich wünschte, |77| Fragen zu den Filmen ›Der Herr der Ringe‹ und ›King Kong‹ stellte.
Sie wollte gar nicht mehr nach Hause zurück.
Scarman, herausgeputzt in einem Anzug, der garantiert von Hugo Boss oder so war, unterhielt die Empfangsdame und zwei Kuriere mit einer Geschichte, die er sofort abbrach, als sie erschien. Sein Haar war fast genauso voll wie früher und erstklassig geschnitten. Seit ihrer letzten Begegnung hatte er sich einen gepflegten, leicht ergrauten Bart zugelegt.
Er streckte die Arme aus, als wollte er sie umarmen, aber sie wich empört zurück.
»Was zum Teufel willst du?«, sagte Lesley mit versteinertem Gesicht.
»Ich war im Ausland«, sagte Scarman. »Ich habe gerade erst von Stephen gehört. Es tut mir leid.«
Er griff nach ihrer Hand, aber sie zog sie weg.
»Wirklich?«
»Ja.«
»Was tut dir denn eigentlich leid?«
»Du natürlich. Und Stephen auch. Selbstverständlich. Dass so etwas Schreckliches passiert ist. Barbarisch.«
»Du machst dir überhaupt nichts aus Stephen. Hast du nie. Du fandest es schrecklich, wenn ich auch nur am Telefon mit ihm geredet habe.«
»Das ist nicht wahr.«
»Ach, nein? Eine erbärmliche kleine Tunte, so hast du ihn genannt. Wenn du dich nett ausgedrückt hast.«
»Lesley …«
»Und wenn du ehrlich wärst, würdest du dir eingestehen, dass du gedacht hast: geschieht ihm recht.« Ihre Stimme war laut und schrill, und in ihren Augen standen Tränen.
»Lesley, hör zu. Beruhige dich.«
|78| »Sag mir nicht, dass ich mich beruhigen soll, verdammt noch mal!«
»Lesley …« Er streckte noch einmal die Hand nach ihr aus, und sie schlug sie zur Seite.
»Und sag nicht die ganze Zeit ›Lesley, Lesley‹. Hau einfach ab und lass mich in Ruhe. Wir haben uns nichts zu sagen.« Inzwischen hatte sich ein Mann vom Sicherheitsdienst neben Scarman gestellt, und der Nachrichtenredakteur war in einer Türöffnung hinter Lesley aufgetaucht.
»Na gut«, sagte Scarman mit einem leichten Achselzucken. »Du sollst deinen Willen bekommen.« Er lächelte in Richtung der wenigen Zuschauer am Empfangstisch. »Wie immer.«
»Mistkerl!« Lesley spuckte das Wort über die Entfernung zwischen ihnen.
»Ganz, wie du meinst, Schätzchen.« Scarman zwinkerte und drehte sich leichtfüßig um. »Ganz, wie du meinst.«
»Komm schon, Lesley«, sagte Alan Pike ruhig. »Lass uns wieder reingehen.« Er legte eine Hand auf ihre Schulter, und sie schüttelte sie ab, aber einen Augenblick später drehte sie sich um und folgte ihm in die Nachrichtenredaktion.
In Pikes Büro setzte sie sich vor seinen Schreibtisch, immer noch zitternd, und starrte zu Boden.
»Worum ging’s da eigentlich?«
»Ist nicht wichtig.«
»Na ja, immerhin ist es hier passiert.«
Lesley seufzte, schniefte, kramte nach einem Papiertaschentuch, das sie nicht finden konnte. Der Nachrichtenredakteur gab ihr ein Kleenex aus der Packung auf
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