Splitterndes Glas - Kriminalroman
mütterlicherseits, damals in den Staaten, hatte sich dem Vaudeville verschrieben. Hier nannten Sie es Varieté, glaube ich. Er machte Zaubertricks. Keine besonders guten. Und er jonglierte.« Rouse zog die Augenbrauen weit in die Höhe. »Ist es ein Wunder, dass diese Kunstform untergegangen ist? Jedenfalls stand er auf der Bühne, herausgeputzt in seinem schwarzen Frack, dem Zylinder, |91| mit allem, was dazugehört. Der Große Irgendwas. Er hat nämlich seinen Künstlernamen alle paar Jahre gewechselt, um weiterhin Engagements zu bekommen. Aber egal, wie er sich nannte, da war immer Maureen. Sie war diejenige, die in einem kurzen Rock und hohen Absätzen an der Seite der Bühne stand, ihm Dinge reichte und verwundert in die Hände klatschte, wenn er eine Taube aus seinem Umhang zog. Der Große Dingsbums und Maureen. So wurden sie angekündigt. So lebten sie ihr Leben. Sie waren fast vierzig Jahre lang verheiratet. Und sie war immer ›und Maureen‹. Ein nachträglicher Einfall. Ein Extra. In all den vielen Jahren schaffte sie es nie, vier Schachteln gleichzeitig in der Luft zu halten oder einen Hasen aus dem Hut zu ziehen. So waren die beiden, glaube ich, auch. Stephen und Mark. Daran haben sie mich erinnert.«
»Und Mark war Maureen.«
»Hundertprozentig.«
»Zweite Geige.«
»Genau.«
»Wie hat er sich Ihrer Meinung nach dabei gefühlt?«
Rouse bedachte Helen mit einem vielsagenden Blick. »Wie würden Sie sich dabei fühlen?«
»Wie soll ich das wissen.« Es kam schärfer heraus, als sie beabsichtigt hatte.
»Ich denke, meistens war es in Ordnung«, sagte Rouse. »Für beide. Aber ich konnte den Gedanken nicht loswerden, dass Stephen manchmal wünschte, Mark wäre ein wenig … nun … intellektueller. Dass er zu einer Diskussion über hegemoniale Strukturen oder Zeichen und Signifikanten oder irgendetwas sonst einen Beitrag leisten könnte. Statt dazusitzen und zu versuchen, nicht gelangweilt zu wirken.«
»Stephen hat auf ihn herabgesehen, das wollen Sie doch sagen?«
|92| »In gewisser Weise schon.«
»Und Mark muss das gemerkt haben?«
Rouse hob die Schultern. »Das vermute ich.«
»Glauben Sie, dass dadurch eine regelrechte Feindseligkeit zwischen den beiden entstanden ist?«
Rouses Augen weiteten sich ein wenig. »Fragen Sie mich, ob Mark Grund gehabt haben könnte, ihn zu töten?«
»Ich frage Sie, ob Sie glauben, dass es eine regelrechte Feindseligkeit zwischen den beiden gab.«
Rouse lächelte. »Mehr als bei einem normalen Paar?«
»Mehr als bei einem normalen Paar.«
Zwei japanische Touristen blieben in ihrer Nähe stehen, weil sie die Bilder in dieser speziellen Ecke betrachten wollten, und Rouse wies mit einer Kopfbewegung auf das andere Ende des Saales. »Sie gönnen sich nur siebenundvierzig Sekunden pro Bild; es wäre gemein, ihnen den Blick zu verstellen.«
»Stephen und Mark«, sagte Helen, als sie ihren Platz gewechselt hatten.
»Also gut«, sagte Rouse, »ich werde Ihnen noch eine Geschichte erzählen.«
»So lang wie die erste?«
»Wahrscheinlich länger. Aber sie kommt mehr auf den Punkt.«
Helen lächelte und wartete.
»Es war vor ein paar Monaten, Ende November. Abendessen bei einem Freund in Waterbeach. Wir waren zu acht, glaube ich, größtenteils Akademiker der einen oder anderen Fachrichtung. Der Abend war sehr nett, das Essen war gut, und wie üblich gab es zu viel Wein. Mark war offenbar derjenige, der fahren sollte, weil er sich nämlich auf ein einziges Glas Wein beschränkt hatte. Gegen Ende des Abends allerdings stürzte er sich auf den Brandy, als gäbe es kein |93| Morgen. Stephen sagte etwas zu ihm, nicht allzu scharf, aber Mark schien ihn zu ignorieren.
Nun, sie brachen vor mir auf, und ich wusste nicht, wie sie das mit dem Fahren regeln wollten, ob vielleicht Stephen fahren würde – was ich sehr selten erlebt hatte –, oder ob sie den Wagen stehen lassen und mit jemand anderem mitfahren würden. Jedenfalls, der Gastgeber und ich hatten noch etwas zu besprechen, was eine Weile dauerte, und als ich dann etwa eine halbe Stunde später ging, hörte ich Geschrei am Ende der Auffahrt. Und da standen Stephen und Mark rechts und links von Marks Wagen und wuschen vor aller Welt ihre schmutzige Wäsche, wie ihr Briten so gerne sagt.«
»Und alle Welt waren Sie.«
»Genau. Und es war Mark, der am lautesten schrie.«
»Erinnern Sie sich daran, was er gesagt hat?«
»Aber sicher. ›Jahrelang war ich für dich lediglich etwas Warmes, das du mit
Weitere Kostenlose Bücher