Splitterndes Glas - Kriminalroman
seinem Schreibtisch.
»Hör mal«, sagte Pike, »warum machst du nicht fertig, was du gerade bearbeitest, und gehst nach Hause? Irgendwie kriegen wir das schon hin.«
|79| »Nein, mach dir keine Sorgen, ich fühle mich gleich besser.«
»Vielleicht hättest du mehr als ein paar Tage freinehmen sollen. Es ist bestimmt nicht leicht nach all dem, was deinem Bruder zugestoßen ist …«
Lesley stand auf. »Alan, mir geht es gut. Ehrlich.«
»Sicher?«
»Ganz sicher.«
An ihren Schreibtisch zurückgekehrt, starrte sie mehrere Minuten lang auf den Bildschirm, bevor es ihr gelang, ein einziges Wort zu entziffern.
Sobald Lesley zu Hause war, zog sie ihre Sachen aus, stellte sich unter das warme Wasser der Dusche, erlaubte ihren Tränen zu fließen und schaukelte in der dampfenden Nässe mit dem Körper vor und zurück.
Nach dem Abtrocknen zog sie einen schwarzen Rolli, weite Bluejeans und alte Turnschuhe an. Bevor sie telefonierte, zwang sie sich, ein Stück Toast zu essen und eine Tasse starken Tee mit besonders viel Zucker zu trinken.
McKusick antwortete beim fünften Läuten.
»Mark, hier ist Lesley.«
Eine lange Pause trat ein, in der sie McKusicks Atmen bemerkte. »Stephen – ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Schon gut«, sagte Lesley. »Du brauchst gar nichts zu sagen.«
»Nein, das ist es nicht. Ich würde gerne sprechen. Es ist nur …«
»Ich weiß, ich weiß«, sagte Lesley. Und dann: »Wie stehst du es durch?«
»Ganz gut, denke ich. Und du?«
»Es kommt und geht.«
»Ja.«
|80| »Hör zu, wenn du reden möchtest, könnten wir uns doch treffen?«
»Ist gut, ja, das möchte ich.«
»Wann passt es dir?«
»Eigentlich immer. Je eher, desto besser.«
»Ich arbeite morgen spät«, sagte Lesley. »Fange erst um zwei an. Es geht wahrscheinlich nicht, dass wir uns am Vormittag sehen, oder?«
McKusick zögerte nur kurz. »Das kriege ich hin, doch. Möchtest du, dass ich zu dir komme?«
»Oder umgekehrt, ist mir gleich.«
»Dann komme ich zu dir. So um zehn, halb elf?«
»Sagen wir elf. Dann ist der Verkehr nicht mehr so heftig.«
»Passt mir gut. Wo wollen wir uns treffen?«
»Es gibt ein Café in der Fletcher Gate, in der Nähe des Parkhauses. Es heißt ›Stones‹. Da können wir uns treffen. Oben.«
»Ist gut. Pass auf dich auf.«
»Du auch.«
Lesley legte das Telefon weg und fühlte sich besser, weil sie den Anruf gemacht hatte.
Aber der Abend war noch lang.
Sie hatte Freunde, die sie anrufen konnte, größtenteils Leute, die mit ihrer Arbeit zu tun hatten, aber dann wurde ihr klar, dass sie im Moment gar keine Gesellschaft wollte.
Sie könnte etwas trinken, die Füße hochlegen, versuchen, sich zu entspannen.
Zu den positiven Dingen, die ihr die Beziehung mit Scott Scarman eingebracht hatte, gehörte eine Vorliebe für einen anständigen Scotch, Single Malt. Nicht lange, nachdem sie aus Neuseeland zurückgekehrt war, hatte der Supermarkt |81| bei Castle Marina »Highland Park« im Sonderangebot gehabt. Es war nicht mehr sehr viel übrig, aber es reichte. Sie schenkte sich ein gutes Maß ein, trug das Glas zu dem kleinen Zweisitzersofa hinüber, streckte sich aus, ließ die Füße über die Kante hängen und arbeitete sich mit der Fernbedienung durch die Fernsehsender. Sky News zeigte, wie die Mutter des jungen Soldaten aus Nottingham, der im Irak getötet worden war, vor der Kamera zusammenbrach – genauso wie Five und die Rund-um-die-Uhr-Nachrichten auf BBC News 24.
Zu viel Trauer.
Lesley schaltete aus und holte die DVD, die sie für einen Fünfer bei Fopp ergattert hatte. ›Leoparden küsst man nicht‹
.
Katharine Hepburn und Cary Grant. Einer von Stephens Lieblingsfilmen, er hatte ihn ihr mal als Video geschenkt.
So schnell und lustig er auch war, konnte er ihre Stimmung nicht völlig aufhellen, und am Ende hielt er ihre Augen nicht davon ab, zuzufallen. Als sie kurz nach eins aufwachte, war der Film lange zu Ende, die Heizung hatte sich abgestellt, und fröstelnd ging sie in ihr Bett.
7
Die Namensliste, die Mark McKusick für die Polizei gemacht hatte, war nicht gerade umfangreich. Ein Dutzend Namen alles in allem. Ob Stephen Bryan damit als geselliger Mensch oder als Einsiedler galt, konnte Helen nicht sagen. Es hing nicht nur von der Persönlichkeit ab, dachte sie, sondern auch von den Erfordernissen des Berufs und den Kreisen, in denen man sich bewegte. Sie selbst hätte Schwierigkeiten gehabt, die Namen von zwölf Freunden |82| zu liefern, die sie
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