Splitterwelten 01 - Zeichen
und an in ihre Zelle drangen, war der Kampf um Thulheim entschieden. So tapfer sie vermutlich gekämpft hatten – der Übermacht von Ardaths Truppen hatten die Kämpfer Jordråks nichts entgegenzusetzen gehabt. Kalliope konnte hören, wie immer mehr von ihnen in den Kerker der besetzten Festung gebracht wurden, und ihr Herz war voller Trauer. Nicht nur, weil hier ein schreckliches Unrecht geschah, sondern auch, weil sie mit den Kämpfern Jordråks fühlte, die lediglich ihr Heim und ihre Familien verteidigt hatten; und weil sie sich immer wieder fragte, was Erik widerfahren sein mochte. War der Prinz von Jordråk noch am Leben? War er womöglich im Kampf gefallen? Der Gedanke war unerträglich für sie.
Im Dunkel ihrer Zelle, in die Priscas Schergen sie gesteckt hatten, sah Kalliope vieles mit anderen Augen. Noch vor wenigen Wochen hatte sie sich nicht vorstellen können, dass im Namen der Gilde ein Unrecht geschah, und als Erik sie in die Katakomben der Festung führte und ihr das Geheimnis aus alter Vergangenheit offenbarte, hatte sie es nicht glauben wollen. Nun jedoch stellte sich manches anders dar. Kalliope hatte die dunkle Seite der Gilde kennengelernt, die zu allem fähig schien und nicht davor zurückschreckte, die Gabe der Levitation zu missbrauchen, um ihre Interessen durchzusetzen.
Diese dunkle Seite hatte einen Namen.
Inquisition.
Kalliope hatte gewusst, dass es vor einigen Dekaden eine solche Bewegung gegeben hatte, ihr jedoch nie große Bedeutung beigemessen. Die Inquisition, so hatte man ihr beigebracht, war eine Vereinigung junger Gildeschwestern gewesen, die den Codex der Schwesternschaft auf radikale Weise gedeutet und sich dadurch auf einen Irrweg begeben hätten – jedoch sei dieser nur von kurzer Dauer gewesen, sodass am Ende nicht mehr als eine Fußnote in den Chroniken übrig blieb. Hatte die Gilde dieses dunkle Kapitel ihrer Geschichte absichtlich verschwiegen? Hatte Meisterin Cedara deswegen nicht darüber gesprochen, weil sie selbst eine dieser fehlgeleiteten Schwestern gewesen war?
Kalliope musste an Meisterin Audra denken, an das seltsame Gespräch, das sie kurz vor der Abreise geführt hatten. Audra hatte die numeratae Heuchlerinnen genannt, und ganz offenbar hatten sie und ihre einstige Schülerin Cedara sich überworfen – war womöglich die Inquisition der Grund dafür?
Kalliope hatte das Gefühl, in einen Abgrund zu blicken, der immer noch tiefer und drohender wurde, je länger sie hineinstarrte. Die bittere Erkenntnis, dass die Gilde der Levitatinnen nicht jene glorreiche, selbstlose und über den Dingen stehende Organisation war, für die sie sie stets gehalten hatte, drang in ihr Bewusstsein ein, und ihr wurde klar, dass jene, die der Schwesternschaft mit Misstrauen oder gar Ablehnung begegneten, nicht zwangsläufig nur von Neid und Missgunst getrieben waren, sondern womöglich gute Gründe dafür hatten. Wie viele dunkle Geheimnisse mochten noch in der Vergangenheit der Schwesternschaft ruhen? Wie viele Dinge, die man den Schülerinnen verheimlichte, weil sie nicht in das makellose Bild passten, das die Gilde von sich selbst zu vermitteln pflegte und an das Kalliope ihr Leben lang geglaubt hatte? Wie einfältig sie doch gewesen war, wie dumm und naiv … oder gab es auch noch andere, die so dachten wie sie? Die an die Werte und Ideale der Gilde glaubten und auch in diesen dunklen Zeiten daran festhielten?
Kalliope schalt sich eine Närrin.
Wenn es stimmte, dass das Ende der Welten bevorstand, so spielte all dies keine Rolle mehr. Die Erhabene Schwester lag im Sterben, ohne sie würde die Gilde dem Chaos und der Dunkelheit schutzlos ausgeliefert sein, und in dem Sturm, der über das Sanktuarion hereinbrach, würden die Schwesternschaft und ihre Werte ohnehin untergehen. Selbst dann, wenn es der Inquisition gelang, den Sturm zu überstehen. Denn was, so fragte sich Kalliope, nutzte es, die Ideale der Gilde zu verteidigen, wenn am Ende nichts davon übrig blieb?
Kalliope wusste nicht mehr zu sagen, wie oft sie sich diese Fragen gestellt hatte, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Sie hatte keine Ahnung, wann sie zuletzt gegessen, getrunken oder geschlafen hatte – im Zuge ihrer Ausbildung hatte sie gelernt, körperliche Belange zu vernachlässigen. Geräusche von außen drangen nur gedämpft durch die eiserne Zellentür, das spärliche Licht, das durch die kleine Öffnung fiel, reichte gerade aus, um verschiedene Schattierungen von Grau zu unterscheiden. Doch nicht nur
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