Splitterwelten 01 - Zeichen
war, so vertraut war es ihm nun, da er seine Biegungen und Linien mit den Fingern nachfahren konnte. Ein eigenartiger Reiz ging davon aus, der etwas tief in ihm erwachen ließ, eine seltsame, unbestimmte Sehnsucht.
»Was bist du?«, flüsterte Kieron. »Was ist deine Bestimmung? Verrate es mir …«
Ein Impuls drängte ihn dazu, den Schild herumzudrehen und die Innenseite zu betrachten. Das Metall war so glatt poliert, dass es wie ein Spiegel wirkte. Kieron konnte sich selbst darin sehen, was ihm eigenartig vorkam. In seinem bisherigen Leben hatte er kaum Gelegenheit gehabt, sich selbst zu betrachten, allenfalls in den Regenpfützen, die es auf Madagor zuhauf gab. Auch hatte er sich bislang nie Gedanken über sein Äußeres gemacht – nun fragte er sich zum ersten Mal, ob ihm gefiel, was er sah, ein blasses, hohlwangiges Gesicht, aus dem ihn ein blaues Augenpaar neugierig anstarrte.
Was andere wohl in diesem Gesicht sehen mochten?
Was sie wohl darin sehen mochte …?
Kieron hing noch seinen Gedanken nach, als sich das Bild im Spiegel veränderte. Sein Antlitz verschwomm, und es hatte den Anschein, als würde sich das eben noch blanke Metall eintrüben. Es wurde dunkel, und plötzlich sah Kieron Formen, die sich voneinander lösten. Einen Augenblick lang schwebten sie wild durcheinander, dann wurden sie zu etwas, das Kieron bekannt vorkam und das ihm Unbehagen verursachte.
Gedrungene, vor urwüchsiger Kraft strotzende Gestalten.
Ledrige Schwingen, die die Luft geißelten.
Helme, die im Mondlicht blitzten …
Goroptera!
Die Erkenntnis traf Kieron wie ein Hammerschlag, aber noch ehe er begriff, was er sah, war das Bild verschwunden.
War er einer Täuschung erlegen? War er für einen Moment eingeschlafen und hatte geträumt? Oder bedurfte er jetzt schon keines Schlafes mehr, um von Traumbildern verfolgt zu werden?
Ein hässlicher Gedanke beschlich Kieron, lautlos und gefährlich wie eine giftige Natter.
Verlor er allmählich den Verstand?
Verraten.
Von ihresgleichen.
Schlimmer noch, von der einzigen Person im Sanktuarion, von der sie geglaubt hatte, dass sie ihr völlig vertrauen könnte.
Was, so fragte sich Kalliope, war nur mit Prisca geschehen? Was war ihr widerfahren, das sie so verändert hatte? Was musste die Freundin erlebt haben, um sich von dem warmherzigen, mitfühlenden Wesen, als das Kalliope sie gekannt hatte, in jenes kalte, gefühllose Monstrum zu verwandeln, dem sie auf dem Flaggschiff begegnet war?
Obwohl in Wahrheit nur Wochen seit ihrer letzten Begegnung vergangen waren, kam es Kalliope wie eine Ewigkeit vor. Welten schienen die einstigen Freundinnen zu trennen, sodass Kalliope sich immerzu fragte, wie so etwas plötzlich möglich war. Die Antwort, die ihr dämmerte, während sie in Gedanken versunken in der Kerkerzelle saß, in die Prisca sie hatte werfen lassen, gefiel ihr nicht, aber es war die einzig plausible Begründung.
Prisca hatte sich nicht verändert, ebenso wenig, wie Kalliope selbst sich verändert hatte. Es war nur so, dass die strenge Ordnung Etheras eine Gemeinsamkeit geschaffen hatte, auf deren Grundlage sie geglaubt hatten sorores facto animoque zu sein. Kaum war diese jedoch entfallen, hatte jede von ihnen sich nach ihren ursprünglichen, eigentlichen Neigungen entwickelt. Prisca, indem sie sich den radikalen Lehren ihrer Meisterin verschrieben hatte; Kalliope, indem sie eine Welt kennengelernt hatte, die einfacher und freier war als das von Regeln bestimmte Leben einer Gildeschwester, aber deshalb nicht weniger wahrhaftig.
Natürlich verspürte Kalliope Enttäuschung, und natürlich war sie verletzt, aber sie gab Prisca nicht die alleinige Schuld dafür. Je länger sie Gelegenheit zum Nachdenken hatte, desto deutlicher ging ihr auf, dass auch sie Fehler gemacht hatte. Sie neigte dazu, Menschen, die sie mochte und zu denen sie Vertrauen gefasst hatte, als ein Idealbild zu verehren, dem die Realität niemals standhalten konnte. Schon bei Meisterin Cedara war dies so gewesen und vermutlich auch bei Prisca. Wahrscheinlich, sagte sie sich, war die Freundin niemals das gewesen, was sie in ihr gesehen hatte, und hätte sie die Möglichkeit gehabt, so hätte sie das Rad der Zeit zurückgedreht und dafür gesorgt, dass jene Nacht niemals geschehen wäre. Jene Nacht, in der sie einander so nahe gewesen waren, wie zwei Menschen es nur sein konnten – und gleichzeitig doch so weit voneinander entfernt.
Was würde nun werden?
Den Geräuschen nach zu urteilen, die ab
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