Splitterwelten 01 - Zeichen
ihre Sinne, auch Kalliopes Gabe war in ihrer Zelle nutzlos. Offenbar hatte Prisca Vorsichtsmaßnahmen getroffen und dafür gesorgt, dass innerhalb der Kerkerwände keine Levitation möglich war. Vermutlich waren Gildeschwestern dazu abgestellt worden, ihre Kräfte zu unterbinden, indem sie ihre eigenen entgegensetzten.
Wie lange, fragte Kalliope sich, wollte Prisca sie hier also schmoren lassen? Abgesehen davon, dass sie sich geweigert hatte, die Werte der Gilde zu verraten und sich der Inquisition anzuschließen, hatte sie sich nichts zuschulden kommen lassen – aber vielleicht genügte das in diesen Tagen schon, um auf alle Zeit in einem dunklen Kerkerloch zu verschwinden. Der Wind hatte gedreht, die Verhältnisse im Sanktuarion sich grundlegend geändert. Freunde waren zu Feinden geworden, die alten Regeln besaßen keine Gültigkeit mehr – und sie, eine Gildeschülerin, war nur ein Staubkorn im Mahlwerk der Geschichte, das niemand vermissen würde.
Verzweiflung bemächtigte sich ihrer, so dunkel und tief wie der Abgrund, vor dem sie stand. Obwohl Kalliope alles daransetzte, ihr nicht nachzugeben, hatte sie das Gefühl, kopfüber hineinzustürzen – als sich in ihrer Zelle etwas regte.
Anfangs war es nur ein leises Scharren, und sie zog angewidert die Beine an sich heran, weil sie glaubte, es handle sich um eine Ratte. Aber dann war ein Knirschen zu vernehmen, und zu Kalliopes Verblüffung bildete sich im Boden der Kerkerzelle plötzlich ein feurig leuchtendes Quadrat. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass es in Wahrheit einer der Bodensteine war, der von unten hochgehoben wurde, sodass Fackelschein durch die Ritzen drang. Sie sog scharf nach Luft und war einen Augenblick lang fassungslos – bis sie das Gesicht sah, das unter dem Stein zum Vorschein kam und verwegen grinste.
Es gehörte Erik.
14. Kapitel
Das Metall des Schildes blieb stumpf.
Sosehr Kieron sich auch bemühte, die Bilder zurückzuholen, die er für einen Augenblick (oder war es in Wahrheit sehr viel länger gewesen?) in der Innenseite des Schildes gesehen hatte – sie kehrten nicht wieder. Im Gegenteil hatte der Junge das Gefühl, als würde sich das spiegelblanke Metall immer noch mehr eintrüben, je länger er darauf starrte, fast so, als wäre der Schild nicht bereit, sein Geheimnis zu offenbaren.
Was für ein Unsinn! Wie konnte ein Schild, ein lebloses Ding aus Metall, ein Geheimnis haben, geschweige denn es bewahren wollen? Schließlich handelte es sich um einen toten Gegenstand und nicht um ein Lebewesen. Andererseits – hatte er nicht selbst gefühlt, dass der Schild aus mehr bestand als aus bloßem Metall? War dies die Antwort auf die Frage, warum alle so versessen darauf waren, ihn in ihren Besitz zu bringen?
Der Gedanke erschreckte ihn. Mehr noch als zuvor wollte er, dass die Bilder wiederkehrten, aber sie taten es nicht. In seiner Verzweiflung riss Kieron ein Stück Stoff von seiner Tunika ab und polierte die Innenseite des Schildes. Doch die Eintrübung des Spiegels ließ sich damit nicht entfernen.
Das Metall blieb dunkel.
Ein weiterer furchtbarer Gedanke befiel Kieron plötzlich: Was, wenn Croy die Veränderung bemerkte? Es gehörte nicht viel dazu, sich auszumalen, dass jemand das Artefakt unerlaubt an sich genommen hatte, und der Pantheride würde nicht lange brauchen, um herauszufinden, wer das gewesen war, und Kieron würde sich entscheiden müssen, auf wessen Seite er stand.
Panisch blickte sich der Junge im Halbdunkel der Höhle um. Was konnte er nur tun, um …?
Sein Blick fiel auf den ledernen Wasserschlauch, der unweit von ihm am Boden lag. Der Brunnen, aus dem sie das lebensnotwendige Nass schöpften, lag in Richtung Al Battra, einen halben Tagesmarsch entfernt – folglich stellte Wasser ein kostbares Gut dar. Andererseits, wenn es half, den ursprünglichen Zustand des Spiegels wiederherzustellen, war Kieron jedes Mittel recht.
Er ließ den Schild sinken und legte ihn so, dass er wie eine Schüssel auf dem Boden lag. Dann sprang er auf, huschte an seinen schlafenden Gefährten vorbei und holte den Wasserschlauch. Besonders leise sein musste er dabei nicht – Dargs Schnarchen überdeckte jedes andere Geräusch.
Rasch kehrte Kieron zum Schild zurück, entkorkte den Schlauch und schüttete die Hälfte des Inhalts in die Schüssel. Für einen Augenblick sah es so aus, als wären seinen Bemühungen von Erfolg gekrönt – der Beschlag, der sich über das Metall gelegt hatte, schien tatsächlich
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