Splitterwelten 01 - Zeichen
davor, die Kontrolle zu verlieren.
»Nein … Meisterin, ich …!«
Kalliope hatte die Worte kaum ausgesprochen, als ihre Kräfte tatsächlich versagten. Jener unsichtbaren Hand beraubt, die es bislang in der Luft gehalten hatte, sackte die Südwind lotrecht in die Tiefe und schlug auf den marmornen Boden. Wenn Kalliope jedoch gehofft hatte, dass das Modell den Absturz aus nur mehr vier Ellen Höhe einigermaßen unbeschadet überstehen würde, so wurde sie bitter enttäuscht – das Schiff prallte mit derartiger Wucht auf den Boden, dass der hölzerne Rumpf zerbarst. Trümmer von Decksaufbauten und Bruchstücke der Masten fegten nach allen Seiten.
»Nein!«
Was hatte sie nur getan? Nicht nur, dass sie am Beschluss der Erhabenen Schwester zweifelte, dass sie in der vergangenen Nacht die Regeln der Schwesternschaft gebrochen hatte und sich von ihrer Furcht beeinflussen ließ – nun hatte sie auch noch das Modell zerstört, das ihrer Meisterin mehr als alles andere bedeutete!
Doch zu Kalliopes Erstaunen erteilte Cedara ihr keine Rüge. Ihre Meisterin begnügte sich damit zu schweigen, während sie den entstandenen Schaden inspizierte. Ein einziger Blick genügte, um erkennen zu lassen, dass man die Bruchstücke nicht wieder zusammensetzen konnte. Das Modell der Südwind war unwiederbringlich verloren.
»Ich bin untröstlich, Meisterin«, flüsterte Kalliope. »Bitte verzeiht mir.«
»Da gibt es nichts zu verzeihen.«
»Ich habe Eure Erinnerung zerstört!«
»Keine Sorge, Kind«, versicherte Cedara gelassen und tippte sich dabei an die Stirn, »meine Erinnerungen sind gut aufgehoben. Ihnen geht es ganz ausgezeichnet.«
»Aber das Modell ist vernichtet!«
»Erinnerst du dich an das, was ich dir über weltlichen Besitz erklärt habe? Wir tun gut daran, uns nicht zu sehr daran zu klammern.«
»Aber sagtet Ihr nicht, dass …?«
»Es kommt der Tag, da wir uns von allen weltlichen Gütern trennen müssen, mein Kind. Je eher wir das begreifen, desto besser ist es für uns – und glaubst du wirklich, ein Sturz aus so geringer Höhe hätte es völlig zerstören können?«
»Was wollt Ihr damit sagen?«, fragte Kalliope – das Lächeln ihrer Meisterin gab ihr die Antwort. »Ihr seid es gewesen. Ihr habt das Modell mit Euren Gedankenkräften zusätzlich beschwert.«
»Sonst wäre die Übung zu einfach gewesen.«
»Aber warum habt Ihr dann gesagt, dass Euch so viel an dem Modell liege?«
»Das habe ich nicht gesagt, sondern du hast es gefolgert«, widersprach Cedara und zuckte mit den schmalen Schultern. »Und mir war klar, dass du all deine Kraft einsetzen würdest, um das gute Stück vor dem Absturz zu bewahren.«
Kalliope nickte niedergeschlagen. Einerseits war sie erleichtert, andererseits hatte sie das hässliche Gefühl, hereingelegt worden zu sein. »Dennoch habe ich versagt.«
»Dieses Mal ja«, räumte Cedara ein, »aber du wirst schon bald neue Gelegenheit erhalten, dich zu bewähren. Meine eigene Meisterin pflegte stets zu sagen, dass Übung notwendig sei – aber dass erst das wirkliche Leben wahre Meisterschaft hervorbringe.«
»Eure eigene Meisterin?« Kalliope sah auf. »Das ist das erste Mal, dass ich Euch von ihr sprechen höre.«
»Tatsächlich?« Für einen kurzen Augenblick hatte es den Anschein, als würden sich Cedaras Züge verfinstern.
»Ich hatte den Eindruck, dass Euch das Thema unangenehm berührt, deshalb habe ich Euch nie danach gefragt. Ich fürchtete, Euch zu verletzen.«
»Das sieht dir ähnlich, Kind.« Cedaras Lächeln kehrte zurück. »Aber da hat dir dein Gefühl wohl einen Streich gespielt. Das Thema ist mir keineswegs unangenehm.«
»Dann erzählt mir mehr darüber«, bat Kalliope, die für jede Ablenkung dankbar war. »Vielleicht fällt es mir leichter, meine eigenen Schwächen anzunehmen, wenn ich weiß, dass auch Ihr nicht immer so vollkommen wart, wie Ihr es heute seid.«
»Vollkommen? Ich?« Cedara lachte bitter auf. »Mein Kind, ich bin weit davon entfernt, vollkommen zu sein. Wir alle sind weit davon entfernt.«
»Ihr wisst, wie ich es meine. Bitte erzählt mir von früher. Wer ist Eure Meisterin gewesen? Ist sie noch am Leben?«
»Das ist sie«, versicherte Cedara, und erneut schwand das Lächeln von ihren Zügen. »Das ist sie.«
6. Kapitel
Der Schlupfwinkel des Pantheriden war ein Ort, der diese Bezeichnung tatsächlich verdiente.
Es war ein heruntergekommenes Gebäude, das sich unweit des Marktes befand, also in einer auch um diese späte Stunde
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