Splitterwelten 01 - Zeichen
diese Aufgabe übernehmen.«
»Natürlich, Meisterin.«
Kalliope nickte bereitwilig und rückte einen Schemel zurecht, auf den sie steigen konnte. Dann sah sie sich nach etwas um, womit sie die Fäden durchschneiden konnte, an denen das Modell aufgehängt war.
»Was tust du?«, erkundigte sich Cedara.
»Ich folge Eurer Anweisung, Meisterin. Ich möchte das Modell abnehmen, um es in die Kiste zu packen.«
»Das Durchtrennen der Fäden werde ich übernehmen«, erwiderte Cedara und stieg mit in Anbetracht ihres Alters bewundernswerter Leichtigkeit auf den Schemel. »Aber hast du je von einer Levitatin gehört, die ein Schiff mit den Händen getragen hätte?«
»Ich – nun …« Kalliope sah verblüfft zu ihrer Meisterin auf. Sie war nicht sicher, ob sie recht verstanden habe. »Ihr meint, ich soll …?«
»An deiner Stelle würde ich mich konzentrieren, denn ich werde die Fäden jetzt trennen«, kündigte Cedara an und hob das Messer.
»Nein, Meisterin!«, rief Kalliope entsetzt. »Bitte nicht, ich kann doch nicht …!«
In diesem Augenblick glitt die Klinge durch den ersten Fadenstrang – und das Schiff kippte nach steuerbord.
Womöglich hätte es sich ganz um seine Längsachse gedreht, und die übrigen Fäden wären unter dem unerwarteten Gewicht gerissen, hätte nicht etwas es plötzlich in der Luft gehalten und stabilisiert, eine unsichtbare Hand, die es plötzlich zu führen schien.
»Gut so«, lobte Cedara und kappte kurzerhand auch noch die restlichen Befestigungen, während Kalliope ihren sich eintrübenden Blick auf das Modell geheftet hatte und es mittels ihrer gebündelten Gedankenkraft in der Schwebe hielt.
»Und nun lass es vorsichtig zu Boden sinken, hörst du?«
Kalliope nahm die Stimme ihrer Meisterin nur wie durch eine geschlossene Tür wahr. Tief in den Vorgang der levitatio versunken, verwandte sie ihre ganze Konzentration darauf, das Modell in der Luft zu halten. Zwar hatte sie schon unzählige Male Dinge kraft ihrer Gedanken bewegt und es bisweilen sogar geschafft, sich selbst in Levitation zu versetzen, doch dies hier war etwas anderes. Sie wusste, wie viel ihrer Meisterin dieses Modell bedeutete, und ihre Konzentrationsfähigkeit an diesem Morgen war mehr als eingeschränkt. Aber natürlich wusste Cedara dies und unterzog sie genau aus diesem Grund der Übung.
»Vorsicht«, mahnte ihre Meisterin, als die Südwind Schlagseite bekam. »Eine Levitatin wahrt die Balance. Balance in ihrem Dasein. Balance in ihrem Inneren. Balance bei allem, was sie tut. Wenn du diesen Grundsatz berücksichtigst, ist es ohne Belang, ob es sich um einen Frachter, um eine Galeere oder nur um ein Modell handelt. Ist dein Innerstes im Gleichgewicht, sind deinen Fähigkeiten kaum Grenzen gesetzt. Nagen hingegen Furcht und Zweifel an dir …«
Furcht!
Zweifel!
Aus dem hintersten Winkel ihrer Seele, wohin sie sie vorübergehend verbannt hatte, kehrte Kalliopes Angst zurück, und je vehementer sie sie zu leugnen versuchte, desto stärker wurde sie. Entsprechend begann das Schiff in der Luft zu schlingern.
»Finde dein Gleichgewicht«, rief Meisterin Cedara beschwörend, die ihre Gedanken zu erraten schien, »finde dein Gleichgewicht!«
»Ich kann nicht!«, erwiderte Kalliope. Hilflos streckte sie die Hände nach dem Luftschiff aus, um es nötigenfalls aufzufangen, aber ihre Meisterin ließ es nicht zu.
»Lass deine Hände, wo sie sind«, schärfte sie ihr ein, nun unerwartet streng. »Die Kraft einer Levitatin ruht in deinem Geist, nicht in den Händen.«
»Aber es … entgleitet mir«, ächzte Kalliope verzweifelt. Das Schiff schlingerte in der Luft. Sie hatte alle Mühe, es über dem Boden zu halten, zentnerschwer schien es zu sein.
»Weil Furcht und Selbstzweifel dich plagen«, war Cedara überzeugt. »Bekämpfe sie!«
»Wie?«
»Mit Wissen und Weisheit, so wie ich es dich gelehrt habe!«
»Aber ich weiß nichts über die Dinge, die vor uns liegen«, entgegnete Kalliope panisch, den Blick noch immer auf das schwankende Schiff gerichtet. Ihre Kräfte würden sie gleich endgültig verlassen.
»Dann frage mich«, befahl die Meisterin ihr streng. »Was willst du wissen?«
»Ob … ob es wahr ist«, stieß Kalliope hervor, »dass auch auf anderen Welten Gildeschwestern verschwunden sind! Ob die Völker des Sanktuarions sich gegen uns erheben …«
»Wer sagt so etwas?«
»Meisterin Audra.«
»Audra ist alt.«
Das Schiff kippte hin und her. Die Schwerkraft forderte ihr Recht. Kalliope war kurz
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