Sportreporter
endgültig zu modern geworden, um ein derart perfektes, kristallisiertes Leben zu führen – ganz gleich, was sich bei uns im Augenblick entwickelte. Ich hatte jedenfalls einen flüchtigen Eindruck von einem fast perfekten Leben gewonnen, so perfekt, wie es der Katalog in Aussicht stellte. Und ich hatte das in einer lockeren, beiläufigen Art geschafft, weshalb Mindy mich auch wieder mochte und mich ohne Scham küssen und an sich drücken konnte. Ich hatte ihr nichts weggenommen, hatte nichts kaputtgemacht (ein Kuß mehr allerdings, und sie wäre mit mir in dieses Motel in Concord gegangen). Kurzum, ich hatte eine kurze Liebesaffäre gehabt, die eigentlich gar keine war. Und das reichte mir oder jedem anderen Mann, der versuchte, in ein besseres, geradlinigeres Gleis zu kommen, der versuchte, das Leben von seiner schöneren Seite zu sehen und seiner Verträumtheit ein Ende zu machen, die – so hoffte ich – bereits auf dem Rückzug war. Doch da irrte ich mich gewaltig.
Neun
Ein grauer, silbermähniger Nebel hüllt mich ein. Ich liege am Fußboden der offenen Veranda im Obergeschoß, voll angezogen, den Kopf auf die kalten, nebelfeuchten Dielen gebettet. In dieser Stellung wachte ich in den Monaten nach X’ Weggehen oft auf. Beim Lesen von Katalogen wurde ich vom Schlaf übermannt, entweder auf der Couch, wie gestern abend, oder in meinem Bett oder in der Frühstücksnische – wachte aber immer auf diesen kalten Dielen auf, in meinen Kleidern und steif wie eine Mumie, ohne mich je erinnern zu können, wie ich da hingekommen war. Ich weiß bis heute nicht, was ich davon halten soll. Damals hielt ich es nicht unbedingt für ein schlechtes Zeichen, und das tu ich auch jetzt nicht. Und die Sehnsucht, die den kühlen Morgen durchdringt, ist mir vertraut genug, und so liege ich still und zufrieden da und höre auf das harmlose Pochen meines Herzens. Es ist Ostern.
Was ich höre, sind typische Sonntagsgeräusche. Irgendwo in der Nachbarschaft harkt jemand Frühjahrslaub zusammen und bringt eine vor Monaten begonnene Arbeit zu Ende; das kurze Pfeifsignal des ersten Morgenzugs aus dem Norden – Mamis und Daddys auf dem Weg zu frühen Gottesdiensten am Institut. Eine dicke Zeitung klatscht auf den Gehweg. Ein Stimmengeraschel nebenan bei den Deffeyes, die schon vor Tagesanbruch herumwerkeln. Ich höre das pfeifende Schnarchen Bosobolos in seinem Zimmer, und in seinem Radio läuft leise der die ganze Nacht ausgestrahlte Evangeliumsfunk. Ich höre einen Jogger in meiner Straße, der stadteinwärts läuft. Und weit weg in der Stille vor dem ersten Dämmerlicht – so weit weg wie der nächste schlafende Ort – höre ich Kirchenglocken, die mit einladenden Tönen Ostern einläuten. Aber ich höre auch jemanden weinen. Das leise Schluchzen echten Kummers im Dunkel des Friedhofs, in nächster Nähe.
Ich stelle mich ans Fenster und spähe hinunter in die erste Dämmerung, durch die ausschlagende Blutbuche und den Tulpenbaum, aber ich kann unter dem blassen Wolken-und-Sterne-Himmel nichts erkennen – nur die schwachen, unregelmäßigen Schatten weißer Grabsteine und Bäume. Kein Reh blickt zu mir herauf.
Ich höre solche Laute nicht zum ersten Mal. Der frühe Morgen ist in den Vororten die Stunde des Trauerns – am Wendepunkt eines Zweimeilenlaufs, eine Zwischenstation auf dem Weg zur Arbeit oder zum Sieben-Uhr-Elf-Zug. Ich habe dort noch nie einen Menschen gesehen, aber sie hören sich immer gleich an, fast immer wie eine Frau, die Tränen der Einsamkeit und Zerknirschung vergießt. (Tatsächlich fing einmal, als ich auch so dastand und horchte, plötzlich ein Mann an zu lachen und chinesisch zu reden.)
Ich lege mich wieder aufs Bett und lausche den österlichen Geräuschen – Ostern, der Feiertag des Optimisten, das Fest, das den Vorortbewohnern entgegenkommt, der Tag für alle Menschen mit sonnigem Gemüt und einem festen Glauben an den Mittelweg, ein kleiner, blitzsauberer Feiertag, den du ein Leben lang mit schönen, undeutlichen, immer genau gleichen Erinnerungen verbindest. Ich kann mich nicht erinnern, daß es an Ostern einmal geregnet oder daß es je etwa anderes gegeben hätte als strahlenden Sonnenschein. Der Tod ist schließlich ein Mysterium, mit dem sich Christen nie anfreunden können. Er ist unserer Meinung nach zu hart und eindeutig, ein Fehler beim Addieren. Und dagegen wehren wir uns mit lautem Geschrei, appellieren an die Sonne, heiter zu bleiben, halten eine mitreißende Predigt. »Wohlan denn,
Weitere Kostenlose Bücher