Sportreporter
für mich den Schluß nahelegte, daß ich nicht allein war.) In diesem Fall saß ich über der Nachlieferung zum Katalog eines teuren Fachgeschäfts für Jägerbedarf aus West Ovid in New Hampshire, am Fuße der White Mountains, kaum achtzig Meilen von der Stelle entfernt, an der ich gerade saß. Am Berg oben veranstaltete eine Studentengruppe ein Gemeinschaftssingen (mit meiner Anwesenheit dort wurde gerechnet), und ein kühler, frischer Duft von gebratenen Äpfeln wurde mit der Neuengland-Luft durch mein offenes Fenster geweht und rückte die Möglichkeit, daß ich doch noch hinging, in weite Ferne, irgendwohin auf den Neptun. Ich war vollauf damit beschäftigt, bei Schweizer Picknickkörben aus Weide mit Lederbesatz Größenvergleiche anzustellen, ehe ich zu den Restposten auf den schwarz und weiß gestalteten Extraseiten zurückblätterte, wo mich verschiedene Dinge interessierten – eine griffsichere Taschenlampe, Knöchelwärmer für die bevorstehenden kühlen Abende, ein vor unerwünschten Räubern geschütztes Futterhäuschen –, und dabei blickte ich auf Seite 88 plötzlich in ein mir bekanntes Augenpaar.
Nach wie vielen Jahren? Hundertmal hatten mich diese zusammengekniffenen, ganz leicht schielenden, lustigen Augen angefunkelt – doch auf Seite 88 waren nur die Augen sichtbar, denn die Frau, die da seidene Unterwäsche aus Taiwan vorführte, trug eine bis auf die Schultern fallende Kapuze aus schwarzer Seide.
Draußen in der dunkler werdenden Nacht schwebten die Klänge von Scarborough Fair in die purpurnen Hügel, und der üppige Duft der Ulmen und Apfelbäume wehte durch das offene Fenster zu mir herein, aber das interessierte mich jetzt nicht im geringsten.
Ich blätterte vor und zurück. Und plötzlich erschien Mindy Levinson auf fast jeder Seite: mit langen braunen Haaren und einem zaghaften Lächeln, ein schwedisches Angorajäckchen um die Schultern (ganz und gar nicht jüdisch aussehend); weiter hinten sah ich sie neben einer roten Scheune in Vermont stehen, in einer saloppen Jacke von Harris Tweed und mit einem stolzen und arroganten Ausdruck; gleich vorne neben der Titelseite mit einem österreichischen Hut, voller Reue an irgendeine nur ihr bekannte Missetat denkend; an anderer Stelle, ziemlich weit hinten, beim Feuermachen in einer behaglichen New Hampshire-Küche, in der Hand einen Gasanzünder aus Messing, der die Form eines Entenkopfes hatte. Und noch weiter hinten versammelte sie eine Schar von Zwergenkindern um sich, die alle Puppenmützen aus Kaninchenfell trugen.
Als sie meine erste Studentenliebe war, kehrten Mindy und ich öfter mal dem Campus den Rücken, um uns im Haus ihrer Eltern in Royal Oak zu verkriechen, wo wir uns mächtig ins Zeug legten und tagelang nicht aus dem Bett kamen. Mindy hatte mich auch auf einer Fahrt durch Hemingways engere Heimat begleitet und am Walloon Lake einmal eine Nacht, in der Leuchtkäfer schwirrten, mit mir im Freien verbracht. Sie war die erste Frau, deretwegen ich einen Empfangschef im Hotel anlog. Später heiratete sie natürlich einen schleimigen Baulöwen namens Spencer Karp und zog in den Detroiter Vorort Hazel Park in die Nähe ihrer Eltern und hatte Kinder, noch bevor ich mein Studium abgeschlossen hatte.
Aber meine Verblüffung hätte nicht größer sein können. Aus einer unordentlichen und nicht besonders angenehmen Gegenwart tauchte ein freundliches und gütiges Gesicht aus der Vergangenheit auf (so oft passiert mir das nicht). Da war sie nun also, Mindy Levinson, und lächelte mich aus einem strahlenden Leben heraus zwanzigmal an, einem Leben, wie es mir auch hätte blühen können: Ich hätte nur an der Uni bleiben und Jura studieren müssen, hätte mich in der Rechtsabteilung einer Firma irgendwann langweilen und alles hinwerfen und nach New Hampshire ziehen müssen, um meine eigene Kanzlei aufzumachen und meiner Frau ihre eigene kleine Modeboutique einzurichten – ein hübsches Leben wäre das gewesen, kostbar und verlockend, augenscheinlich ohne die kleinste Entfremdung und ohne jenes heftige mitternächtliche Herzpochen. Ein märchenhaftes Leben für wirkliche Erwachsene.
Wo, fragte ich mich, war Mindy? Wo war Spencer Karp? Warum sah sie nicht mehr jüdisch aus? Was war mit Detroit?
Ich nahm sofort das Telefon und wählte die Nummer für gebührenfreie Gespräche rund um die Uhr und redete mit einer verschlafen klingenden älteren Frau, die ich die Katalogseite mit den Zwergenkindern aufschlagen ließ, und bestellte drei von
Weitere Kostenlose Bücher