Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition)
Rubinstein die Bühne betrat, erblickte er sie, ging zu ihr hinunter, nahm ihr die Noten aus der Hand und sagte freundlich lächelnd: »Wenn Sie mitlesen, habe ich das Gefühl, in einer Prüfung zu
sein.« Das war natürlich ein bisschen autoritär, aber der alte Herr konnte sich das erlauben. Was Rubinstein natürlich wusste, aber nicht gelten lassen wollte: Vor Jahrhunderten war es durchaus üblich, während der Opernaufführungen die Texte mitzulesen. In alten Textbüchern stößt man häufig auf Wachsflecken – eine Folge des Umblätterns bei Kerzenschein.
Ich halte, summa summarum, das heutige Notenlesen während eines Konzertbesuchs weder für pedantisch noch für besserwisserisch. Allerdings stellt es für den Sitznachbarn eine gewisse Zumutung dar, weshalb dieser nach Kräften geschont werden sollte. Man möchte umgekehrt ja auch nicht durch das Geraschel von Hustenbonbonpapier, nervöses Brillengeklapper oder sonstige Unhöflichkeiten gestört werden. Eine musikalische Darbietung erfordert vom Publikum kniggegemäße Umgangsformen, vor allem aber Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme. Klar ist doch: Würde man im Konzerthaus so wenig Rücksicht aufeinander nehmen wie im Straßenverkehr – der Musikgenuss wäre schnell dahin.
Vorbild und Leidenschaft
Warum schwindet gerade bei jungen Leuten
das Interesse für klassische Musik?
Ob sich jemand für große Musikwerke interessiert, ist meiner Lebenserfahrung nach keine Altersfrage. Ich habe einmal scherzhaft gesagt, dass man Neureichtum auch in der Bildung antrifft. Damit wollte ich zum Ausdruck bringen, dass es keineswegs schadet, wenn man erst mit sechzig Jahren anfängt, Homer zu lesen oder Beethoven zu hören, aber es fließt eben nicht mehr in die Persönlichkeit ein. Und ganz ehrlich: Mir ist es lieber, einem 17-Jährigen etwas zu erklären, was er noch nicht weiß, als einem 71-Jährigen etwas zu erläutern, was er längst vergessen hat.
Gerade was Kultur betrifft, ist es wichtig, dass ein junger Mensch in einem Klima aufwächst, das ihn inspiriert und anregt, mit Konzerten und Musikunterricht. Als ich in die Sexta ging, im Gymnasium in Tilsit, wurden acht meiner zwanzig Klassenkameraden in der Kunst des Klavierspielens ausgebildet. Und ich nehme an, dass es in Mädchenklassen – wir waren eine reine Jungenklasse – noch viel günstiger stand für die Musik, weil für eine junge Dame im Bürgertum das Klavierspiel noch eine Voraussetzung war, um als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft akzeptiert zu werden.
Wie man heute, im Trommelfeuer von Zerstreuung und Verblödung, bei jungen Leuten das Interesse an Klassik weckt? Durch Vorbild und Leidenschaft. Man muss ihnen zeigen, wie schön die Musik ist. Zugleich muss man ihr Konzentrationsvermögen stärken. Und eine gewisse Opferbereitschaft muss man ihnen ebenfalls abverlangen. All dies sind Aufgaben von Eltern und Musiklehrern. Es reicht nicht aus, Kindern das Notenlesen beizubringen und ihnen die Harmonielehre zu erläutern, den Unterschied zwischen einem übermäßigen und einem verminderten Akkord. Das kann zuweilen sogar abschreckend wirken. Guter Musikunterricht erschöpft sich nicht im Vermitteln prüfungsrelevanter Inhalte. Wichtiger sind praxisbezogene Inhalte. Nur so kann das Kind eine eigene Urteilsfähigkeit erlangen. Vor allem aber, so meine ich, muss der Vermittler selbst entflammt sein von der Materie; und dafür sorgen, dass der Funke überspringt.
Ein pfiffiger Musikpädagoge könnte zu seinen pubertierenden Eleven zum Beispiel sagen: »Beim Besuch eines Fußballstadions hört ihr immer diesen Triumphmarsch aus der Aida, was ist denn da mit der Titelheldin los?« Es gibt so viele großartige Dokumente der klassischen Musik, an denen alle ihren Spaß haben. Wobei Musikunterricht nicht immer nur Spaß machen soll und kann. Wie beim Erlernen einer Fremdsprache, einer Sportart oder jeder anderen Fertigkeit gibt es immer auch Durststrecken. Diese überwinden zu helfen ist ebenfalls eine wichtige Aufgabe des Musikpädagogen.
Seien wir froh und dankbar, dass es in Deutschland eine reichhaltige Orchesterlandschaft, traditionsreiche Musikverlage und viele Feuilletonredaktionen gibt – und Radiosender, die ausschließlich klassische Musik spielen. Woanders werden wir um diese lebendige Musikkultur beneidet. Also nicht vergessen: Vorbild und Leidenschaft. Dann stirbt die Liebe zur Klassik nicht aus.
KAPITEL VI
Aus dem Leben eines Kritikers
Selbstkritik,
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