Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition)
ausbuhen?
Manchmal wirken diese lautstarken, spontanen »Buh«-Rufe tatsächlich ein bisschen ordinär. Früher war das noch schlimmer, da gab es das sogenannte Claquenwesen. Sänger wurden durch Buhrufe und Schmähungen bestellter Claqueure in Bedrängnis gebracht. So etwas ist uns fremd. Wir fragen uns: Was hat das mit der holden Kunst zu tun? Auf der anderen Seite: Die Oper ist keine Kirche, eine Opernaufführung kein Gottesdienst. Oper hat mit Leidenschaften zu tun, mit menschlichen Affekten. Da wäre es merkwürdig, wenn man sich nicht regen und nicht reagieren dürfte. Bei einer Schachweltmeisterschaft sollte man schön still zuschauen, um die Konzentration der Akteure nicht zu stören. Bei einer Fußballweltmeisterschaft dagegen kann nach Herzenslust gebrüllt werden. Vielleicht liegen Konzerte und Opern in der Mitte – nicht tranquillo und nicht con fuoco sondern espressivo ma non troppo. Denn wenn die Aufführungen nicht mehr beurteilt würden und das Publikum nicht mehr temperamentvoll mitfühlen würde, dann ginge doch etwas von der Vitalität der Kunst verloren.
Zu Schönbergs Zeiten, als gerade die neue Musik, seine Zwölftonmusik, eingeführt wurde, gab es musikalische Privataufführungen, in denen Beifall und
Buhrufe verboten waren. Die Zuhörer nahmen die Musik zur Kenntnis, nüchtern und emotionslos, ja nicht Partei ergreifend. Auf mich wirkte das immer ein wenig preziös und dekadent und auch ein bisschen so, als ob da Berührungsangst herrschte. Nein, man muss sich den unmittelbaren Reaktionen schon aussetzen. In Opern geht es doch um Liebe, um Eifersucht, um menschliche Dramen. Ließe sich das Publikum seine Affekte austreiben – das italienische Publikum täte das übrigens nie, das deutsche vielleicht, das ist ja für Belehrungen zugänglich –, dann würden die Künstler schnell etwas vermissen, denn sie brauchen diese lebendige Reaktion eines Publikums, das auch mal schreit, das auch mal schimpft, das auch mal übermäßig jubelt.
Das wäre doch sonst beinahe wie in der Nazizeit, als strenge und echte Kritiken verboten waren, als die Rezensenten nur noch Kulturbetrachtung im Dienste der Ideologie anstellen durften. Anfänglich mag das für die Künstler angenehm gewesen sein, wenn die scharfen Kritiker, Alfred Kerr und wie sie alle hießen, den Mund halten mussten. Doch spätestens, als die Nazizeit vorbei war, waren auch die Künstler erleichtert, dass endlich wieder die echte Kritik erlaubt war, der echte Verriss und das echte Lob. Übrigens hing auch die Entstehung der Gruppe 47 damit zusammen, dass die Literaten froh waren, endlich frei und ungebremst Kritik aneinander üben zu können, zum Wohle der Kunst.
Trotzdem, gegen bloßen Krach in der Oper bin ich auch. Der allzu laute, allzu schnelle Beifall kann ärgerlich sein. Der alte Rubinstein und auch der alte Horowitz, so unterschiedlich sie waren, bemaßen ihren Erfolg bei einem Konzert daran, ob die Leute nach dem langsamen Satz im Klavierkonzert dreißig, vierzig Sekunden still waren. Oder ob sie nach dem Ende eines Werkes, statt gleich in Gejohle auszubrechen, ein paar Sekunden Betroffenheit zeigten. Eine solche Stille ist wohl tatsächlich viel mehr wert als der lauteste Beifall und sicherlich von größerer Bedeutung als das böseste »Buh«.
Prüfung im Kerzenschein
Darf man mit Noten auf dem Schoß in einem
Konzert sitzen?
Selbstverständlich darf man das. Konzertbesucher dürfen während der Darbietung ja auch in ihrem Programmheft lesen. Manchmal lese ich die Noten selber gerne mit, besonders dann, wenn ich die Symphonien und Sonaten, die auf dem Programm stehen, sehr gut kenne, wie zum Beispiel die Pathétique oder die Mondscheinsonate; oder wenn ich den Verdacht hege, dass die bevorstehende Aufführung sich nicht zu einem musikalischen Feuerwerk aufschwingen wird. In so einem Fall lässt es sich nämlich kaum verhindern, dass man mit den Gedanken abschweift. Das Notenlesen dient bei mir also der Konzentrationsdisziplinierung. Außerdem sitze ich ja meistens als Kritiker im Konzertsaal. Ich muss Gründe nennen und Vergleiche anstellen, ich muss sagen, an welcher Stelle mich eine Interpretation nicht überzeugt. Die Noten fungieren bei mir also auch als Argumentationshilfe.
Ich wohnte einmal einem Klavierkonzert von Arthur Rubinstein in der Schweiz bei. Der polnische Pianist hat ja in Deutschland nicht spielen wollen. In der ersten Reihe saß eine Dame und hatte die Noten aufgeschlagen. Als
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