Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition)
mag. Ich glaube, Igor Strawinsky und Alban Berg haben ebenso eine relative Ewigkeit in petto.
Nun sagen aber solche Epocheneinschätzungen im Angesicht der Ewigkeit nichts über die Fruchtbarkeit einer Epoche aus – und nicht jede künstlerische Epoche ist gleich fruchtbar. Das Elisabethanische Zeitalter etwa hat nicht nur Shakespeare hervorgebracht, sondern auch Christopher Marlowe und Ben Johnson. Es war unendlich produktiver als manche spätere britische Jahrhunderte. Natürlich aber muss jeder Lebendige die Gegenwart zur Kenntnis nehmen und sich ihr aussetzen. Wenn dann in seinem Dringlichkeitssystem Mozart eine größere Rolle spielt als Stockhausen, dann hat er eben gewählt. Eher selten ist übrigens der Fall, dass Künstler in ihrer Zeit ganz unbekannt sind und später außerordentlich groß herauskommen. Am ehesten war das vielleicht noch bei dem Maler
Vincent van Gogh der Fall und in gewissem Maße wohl auch bei Friedrich Hölderlin. Aber selbst Schubert, der unter Beethovens Gegenwärtigkeit unendlich litt, avancierte bereits zu Lebzeiten in Wien zu einem Star der Subkultur, und seine Lieder waren durchaus populär.
Ähnlich verlegen machen mich auch Fragen nach dem Superlativ. Der beste Tenor? Der beste Dirigent? Der beste Pianist? Ich kann solche Fragen sehr gut nachvollziehen; wenn man weiß, wer der Beste ist, braucht man auf die anderen nicht mehr neugierig zu sein. Aber trotzdem lassen sich solche Fragen nicht beantworten, wenn sie nicht ungemein genau spezifiziert sind. Woher soll man – soll ich – denn wissen, ob Figaro besser ist als Don Giovanni? Ob die Neunte besser ist als die Eroica? Ob Anne-Sophie Mutter besser ist als meine Lieblingsgeigerin Ginette Neveu? Da fällt mir nur Bismarck ein. Jeder Superlativ, sagte er sehr schlau, provoziere seinen Widerspruchsgeist.
Seien wir doch froh, wenn es in den Künsten kleine Gruppen von Künstlern gibt, die in der ersten Liga fruchtbar sind. Wenn es Gruppen ersten Ranges gibt, gleich einer Bundesliga in der Kunst – das muss doch genügen.
Aprèslude
Ist die klassische Musik im Aussterben
begriffen?
Diese Frage macht mich sehr nachdenklich, denn ich sehe natürlich auch, dass in manchen Konzerten die Zahl der älteren Zuhörer immer größer wird und das jüngere Publikum nicht so recht nachwächst. Ja, die sogenannte E-Musik war schon mal beliebter. Die Zeiten, als die Leute hingebungsvoll für Karajan geschwärmt haben, als die Konzertbesucher aufstöhnten, wenn die große Callas einen hohen Ton nicht sicher traf, als man extra nach New York reiste, um Vladimir Horowitz zu hören – diese Zeiten sind vermutlich vorbei.
Trotzdem kann keine Rede davon sein, dass die klassische Musik hierzulande im Aussterben begriffen ist. Immerhin gibt es bei uns noch über hundert Symphonieorchester, wir subventionieren Opern, weltweit gilt Deutschland bei Sängern und Solisten immer noch als ein »goldenes Land«. Ich habe einmal den großen italienischen Pianisten und Dirigenten Maurizio Pollini gefragt: »Warum kommen Sie eigentlich so oft nach Deutschland und spielen hier Ihre Klavierkonzerte?« , und da hat er mir geantwortet: »Wissen
Sie denn nicht, dass es in ganz Italien nur fünf wirklich gute Orchester gibt und in Deutschland 120?« Wenn man so etwas hört, schlägt man die Augen nieder und schämt sich für seinen Kulturpessimismus.
Und dennoch – es kommt ja nicht darauf an, dass sich ein paar Leute für Musik interessieren, sondern es kommt darauf an, welche Relevanz die Musik im Leben der Leute hat und ob sie in solch hohem Maße Gegenstand des öffentlichen Interesses ist, wie das in der Epoche des deutschen Bildungsbürgertums bis in meine Zeit hinein doch der Fall war. Wenn die klassische Musik aber keine Frage von öffentlichem Belang mehr ist, dann kann es leicht passieren, dass sie zu einem Gegenstand für die berühmten »happy few« verkommt. Dies wäre ein ziemliches Unglück. Die Klassiköffentlichkeit würde zu einer Art »Sekte«, ein paar Enthusiasten würden ins Weihnachtsoratorium gehen, wenn gerade Weihnachten ist. Die klassische Musik wäre dann eine Ausnahmebeschäftigung, wie etwa das Sammeln von Schmetterlingen, das Interesse für Stabhochsprung ...
Womöglich erringt das Entertainment die Übermacht und zieht das Publikum gewissermaßen ab, ohne dass etwas Neues nachwächst. Bis ins Jahr 2010 hielt ich über dreißig Jahre lang im Carl-Orff-Saal des Münchner Gasteigs Vorlesungen, die immer auch von
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