Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition)
Publikumswünsche, Kritikerfal-
len und Musik in meinen Ohren
Selbstkritik
Wozu braucht die Welt eigentlich
Musikkritiker?
Die Welt braucht keine Musikkritiker. Sie braucht auch keine Autos, keine Zeitungen, keine Fernsehdiskussionen. Homer und Horaz dichteten gerne, gut und ohne kritische Begleitung; und auch die Komponisten früherer Zeiten waren glücklich, dass sie nicht von Tageszeitungen verfolgt wurden, weil es so etwas damals noch gar nicht gab. Goethe beklagte sich später über die vielen Journale und Kritiken. Die Naivität, sagte er, die muntere Spontaneität des Schaffens, wie Shakespeare sie noch gekannt hatte, die sei nun, da alles kritisch zerzaust werde, der Welt leider abhandengekommen.
Es ist doch so: Urteile über Kunstwerke kann man nicht beweisen. Schopenhauer hat einmal gesagt, in dieser Sphäre finden Beweise nicht statt. Man kann argumentieren, eine Meinung plausibel machen, man kann mit Temperament und Passion sagen, was einem gefällt oder nicht gefällt.
Aber wie ein Mathematiker oder ein Physiker ein naturwissenschaftliches Prinzip belegen kann oder wie ein Jurist sich auf sein Gesetzbuch beruft – das
kann der Kritiker nicht. Doch er kann erhellen und vermitteln.
Seit der Aufklärung sind nicht mehr ausschließlich Klerus und Adel für Geschmacksurteile entscheidend, auch wenn sie als Förderer von Komponisten und anderen Künstlern ohne Zweifel sehr wichtig blieben. Beispielsweise war es die Wiener Aristokratie, die für Beethoven über die Jahre hin so viel Geld zusammenbrachte, um ihn in Wien zu halten; Richard Wagner hätte sein Festspielhaus in Bayreuth nie gebaut und wäre wahrscheinlich eines schlimmen Todes gestorben, wenn es Ludwig II. nicht gegeben hätte. Klerus und Adel machten das aus freien Stücken. Die Aufklärung jedoch stärkte den dritten Stand. Wenn man so will, war das die Erschaffung des mündigen Bürgers, der sich einmischt und mitredet. Der Kritiker dient gewissermaßen als Anwalt des Bürgers. Er versucht das, was die Bürger denken, öffentlich zu diskutieren und zu begründen. Im Idealfall wird so etwas wie eine Wahrheit ermittelt.
Inzwischen sind Kritiker allesamt Spezialisten geworden, sie vertreten oft das Moderne und das Spezielle gegen bestimmte harmlosere Wünsche des Publikums. Aber immerhin: Sie vertreten auch das Publikum. Die Funktion der Kritiker besteht darin, zwischen veröffentlichter und öffentlicher Meinung zu moderieren.
Ich gebe gerne zu, dass ich mich bisweilen selbst frage, wenn ich schlecht geschriebene und zum Teil absurde Meinungsäußerungen sehe: »Mein Gott, ist so
eine Kritik wirklich nötig?« Ärgern darf man sich natürlich über Kritiker. Aber zu sagen »Es sollte sie nicht geben« oder »Sie haben eigentlich keine Funktion«, das folgt lediglich aus einem gewissen Verdruss. Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger hat zum Beispiel einmal geäußert, er lese keine Literaturkritiken mehr, er brauche das nicht. Er nicht, aber vielleicht die Leute? Warum haben sie Marcel Reich-Ranicki zum Literaturpapst gemacht? Und warum sagen manche, was ich albern finde, ich sei der Musikpapst? Ganz einfach deshalb, weil die normalen Bürger, die keine Spezialisten, keine Experten sind, mit derartig vielen Informationen über Musikalisches und Musiktechnisches, über Aufführungen und Künstler usw. überhäuft werden, dass sie sich mitnichten besonders gut informiert, sondern schlicht desinformiert fühlen. Hier kann vielleicht ein Kritiker helfen, dem man vertraut. Wenn man zum wiederholten Male gesehen hat, dass er ungefähr die Meinung vertritt, die man sich selber gebildet hat, dann sagt man sich: »Er wird auch dann recht haben, wenn ich nicht dabei gewesen bin.« Übrigens gilt das auch umgekehrt. Es gibt zum Beispiel Filmkritiker, bei denen weiß ich ganz genau, Filme, die denen gefallen, will ich auf keinen Fall sehen.
In einer Welt totaler Überinformation hat die Kritik die Funktion, ein wenig die Orientierungslosigkeit des interessierten, aber überforderten Bürgers zu mildern. Von Vernunft geleitete, mithin vernünftige Kritik wird heute wahrscheinlich sogar dringender gebraucht als je zuvor.
Mach’s noch mal, Jochen!
Woher kommen die Animositäten
vieler vermeintlicher Klassik-Experten gegen
Johannes Brahms?
Gerne nehme ich Johannes Brahms gegen alle Anwürfe in Schutz. Ihm verdanke ich schließlich mein musikalisches Erweckungserlebnis. Bei uns zu Hause wurde oft Kammermusik gemacht, mein Vater war
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