Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition)
zwanzig Jahren bei den Salzburger Festspielen den durchaus ehrenwerten Versuch unternommen,
Mozarts Opera seria Titus in eine Typenoper respektive in ein Charakterdrama zu verwandeln. Er hat sich gefragt, ob in der Figur der Vitellia nicht auch eine Königin der Nacht steckt und wie viel Ähnlichkeit Kaiser Titus mit Sarastro hat. Und siehe da: Plötzlich war es ein neues, interessantes Stück. Riccardo Muti, der für diese Inszenierung als Dirigent verpflichtet war, ging dieser Interpretationsansatz allerdings zu weit, und er beendete die Zusammenarbeit mit dem Regisseur noch während der Proben.
Ich habe einerseits großen Respekt vor so einer Entscheidung. Es gibt genügend Anpasser im Opernbetrieb, die alles mitmachen und nie protestieren, solange nur die Gage stimmt. Aber in diesem Fall konnte ich Mutis Reaktion nicht nachvollziehen. Karl-Ernst Herrmann hatte doch eine erkenntnisfördernde Inszenierungsidee – und sie auch noch brillant umgesetzt.
Andererseits spukt der unglückselige Begriff der Konzeptregie noch immer in den Köpfen vieler Regisseure. Konzeptregie bedeutet, dass die ursprüngliche Geschichte und Anlage des Stückes durch einen völlig neuen Zugriff auf das Thema verdrängt und überformt wird. Dies führt häufig dazu, dass Figuren, Schauplätze und Handlung komplett neu erfunden werden und dass das Szenische das Musikalische dominiert. Dann muss man entweder die Augen zumachen, was nicht der Zweck eines Opernbesuches sein kann, oder man wird von einer ganz interessanten und originellen Handlung derart abgelenkt, dass man der Musik kaum noch richtig zuhören kann.
Ein Punkt ist allerdings wichtig. Die Freiheit gegenüber einer Kunst kann nie eindeutig sein. Und ich würde sie immer verteidigen, wie auch das Recht, die Grenzen dieser Freiheit stets neu auszuloten. Aber wenn der Regisseur diese Freiheit nicht dafür einsetzt, das Thema eines Werkes zu verdeutlichen, sondern er sich mit lauter losgelösten Einfällen selbstherrlich zum Autor aufschwingt, dann droht die Inszenierung beliebig zu werden und damit auch fragwürdig.
Vor nicht allzu langer Zeit hat der junge Schriftsteller Daniel Kehlmann, übrigens Sohn eines berühmten Regisseurs, in Salzburg einen intelligenten Vortrag gehalten. Die Auswüchse des modernen Regietheaters seien schwer erträglich, sagte er, und man könne eigentlich nichts dagegen haben, wenn werktreue Inszenierungen auf unseren Bühnen wieder an Bedeutung gewinnen. Wunderbar gesagt – das ist Musik in meinen Ohren!
Von Publikumswünschen und Kritikerfallen
Wer ist der Beste?
Einige Fragen bringen mich in der Tat ein wenig in Verlegenheit, weil ich sie eigentlich für unbeantwortbar halte. Bevor ich den Versuch unternehme, das ein wenig zu erläutern, eine Selbstkritik: Fast alle Kritiker sind eitel. Das ist nahezu eine déformation professionnelle , eine Berufskrankheit. Sie erklärt sich aus dem Umstand, dass der Kritiker als fünftes Rad am Wagen seine wohlerwogenen Geschmacksurteile für wichtig halten muss, sonst würde er sie nie öffentlich äußern. Und das macht anscheinend eitel. Um uns Lebende zu schonen, nenne ich nur Alfred Kerr und Friedrich Sieburg, zwei außerordentlich gute Kritiker, die unsäglich eitel gewesen sind. Doch hat nicht sogar Goethe, auch der war weiß Gott nicht uneitel, die Eitelkeit verteidigt? Ich tue es auch. Solange Eitelkeit die Wahrnehmung des Wirklichen nicht verzerrt, scheint sie mir eine lässliche Sünde zu sein. Abgesehen davon, so meine Erfahrung, kommt man mit eitlen Menschen eigentlich viel einfacher aus als mit jenen anstrengend uneitlen, die sich immer bescheiden geben und dann doch sofort beleidigt sind.
Nun aber zur Sache. Ich verzweifle immer wieder an Fragen, die die Zukunft betreffen. Ob ich zum Beispiel glaube, dass zeitgenössische Komponisten wie Arvo
Pärt, Helmut Lachenmann oder Hans Werner Henze in zweihundert Jahren so beliebt sein werden wie Bach, Beethoven oder Mozart in unserer Zeit. Da muss ich passen. Über die Zukunft vermag ich keine Aussagen zu machen. Ich finde es schwer genug, halbwegs vernünftig über Gegenwärtiges oder Vergangenes zu reden. Außerdem verbirgt sich dahinter natürlich eine Suggestivfrage: Eigentlich können die Fragesteller nämlich mit den zeitgenössischen Komponisten wenig anfangen und trauen ihnen deshalb keine glorreiche Zukunft zu, wohl aber den alten Großen, die ewig bleiben. Was übrigens für viele Komponisten der klassischen Moderne auch gelten
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