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Sprechende Maenner

Sprechende Maenner

Titel: Sprechende Maenner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maxim Leo , Jochen-Martin Gutsch
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weniger deutsche Facharbeiter gibt. Dass die Rente noch unsicherer wäre. Ich, Papa Leo, rette Deutschland vor dem Aussterben.
    aw:
    Wann warst du das letzte Mal auf einer Demonstration?
    re:
    Meine aktive gesellschaftspolitische Phase liegt lange zurück. Sie hatte ihren Höhepunkt, als ich im Herbst 1989 ein paarmal demonstrierte und die DDR zügig in sich zusammenfiel. Mehr als den Sturz eines Staates kann man als Demonstrant nicht erreichen. Dann kam der Westen, und ich konnte endlich nur noch das machen, was ich wollte.
    Was ich verdammenswert finde, ist, dass ich überhaupt nichts mehr mache. Noch nicht mal kleine, konkrete Aufgaben interessieren mich. Ich schrieb mal eine Reportage über eine Schule, in der viele Kinder nicht richtig lesen und schreiben können. Ein Lehrer fragte mich, ob ich vorbeikommen könnte, einmal in der Woche, um den Kindern aus Büchern vorzulesen. »Natürlich!«, sagte ich. Und fuhr dann nie wieder hin. Ich vergaß es einfach.
    Mir fällt es oft schwer, überhaupt eine Meinung zu haben. Ich bin eher der Abwäger. Und leicht beeinflussbar. Wenn ich mir mit einigen Mühen endlich eine richtige Meinung gebildet habe, dann genügt der leise Zweifel eines Freundes. Und schon rutscht mir meine Meinung weg wie ein Stück Seife. Ist das nun eine Reaktion auf meine Jugend in der DDR , wo die Meinung noch Standpunkt hieß und nie wackelte? Ist vielleicht auch zu einfach als Erklärung. Aber das schlechte Gewissen, das wir beide haben, Jochen, zeigt, dass wir mit uns selbst nicht zufrieden sind. Betroffener Gruß, Maxim.
    aw:
    Lieber Bürger Leo, jeder macht, was ihm passt. Das ist zunächst das Wesen unserer Gesellschaft. Das nennt man Freiheit. Also genau das, wofür du so aufopferungsvoll demonstriert hast, damals im Osten. Es gibt keine Pflicht zum Engagement. Du musst nicht mehr, Maxim, aber du kannst. Und darum geht es doch hier. Die Pflicht zum Engage ment hatte damals immerhin eine Wirkung: moralische Beruhigung nach Pflichterledigung. Jetzt geht es um etwas anderes, viel Schwierigeres: die Lust am Engagement, die du anscheinend nicht verspürst, die dir abhandengekommen ist.
    Vor ein paar Tagen sprach ich mit meinem Bruder. Er ist Zahnarzt, fährt einen Ford-Kombi und ist zehn Jahre älter als ich. Wir sprachen über eine Antinazidemo, auf der er dabei war. Mein Bruder, der Zahnarzt. Er legt in seiner Praxis auch gerne Unterschriftenlisten für irgendwelche Bürgerinitiativen oder Bürgerbegehren aus. Er ist ein Guter.
    Ich habe mich noch nie Nazis in den Weg gestellt. Ich habe auch nicht gegen den Irakkrieg demonstriert oder gegen den Kosovokrieg, den Afghanistankrieg, den Gazakrieg, gegen Hartz IV , gegen Stuttgart 21. Ich habe auch nicht für etwas demonstriert. Für Abrüstung, Flächentarifverträge oder den Klimaschutz. An Demonstrationen stören mich die vielen Leute. Ich laufe nicht gerne in einer Herde herum. Ich wärme mich auch nicht an dem Wir-Gefühl. Ich male keine Schilder, auf denen Losungen stehen. Ich halte diese Schilder auch nicht gern hoch. Ich trage keine Fahnen, spreche nicht in Sprechchören oder trillere mit Trillerpfeifen. Auch nicht für die gute Sache.
    All das macht mich als Demonstrant weitgehend unbrauchbar.
    Mir fehlt auch der Glaube, dass Demonstrationen eine Wirkung haben, Einfluss. Demonstrationen beeinflussen selten politische Prozesse in Deutschland. Sie sind zuallererst für die Demonstranten selbst da. Zum Brüllen, Schwenken, Marschieren, Artikulieren, Wutablassen, Empörtsein. Ich finde das okay. Ich weiß nur nicht, ob ich das als Engagement für die Gesellschaft ernst nehmen kann.
    Seltsam fand ich schon immer Demonstrationen in Zusammenhang mit internationalen Themen. Ich denke dann an die Unterschriften, die wir in der Schule für Nelson Mandela gesammelt haben. Wir unterschrieben ein DIN - A 4-Blatt mit einer Forderung, die vermutlich lautete: »Lasst Mandela frei, ihr Apartheidärsche!« Das ist eine gute Forderung. Ich hatte nur damals schon leise Zweifel, ob das die Apartheidärsche irgendwie erschüttert.
    Ich habe mir als Kind vorgestellt, wie ein Sekretär zu Präsident Botha ins Präsidentenzimmer tritt und sagt: »Mr. President, Sir, wir haben Post bekommen.«
    Â»Post?«, fragt Botha.
    Â»Die 8c aus Berlin-Karlshorst, Sir. Wir sollen Mandela freilassen.«
    Â»Tja, hmmm. Dann haben wir wohl keine Chance

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