Sprechende Maenner
verträumten Zeilen lese, möchte ich mir am liebsten ein Fingerchen in den Hals stecken. Das ist so ein Reflex geworden bei mir in letzter Zeit. Immer wenn ich die Worte »Entspannung«, »Wellness«, »Bewusstsein«, »Yoga« höre, wird mein Fingerchen ganz nervös. Ich weià nicht, woher das kommt oder wann das begann. Dieser Glücks- und Erfüllungsterror. Warum muss ein Leben erfüllt sein? Warum muss es glücklich sein? Wenn ich heute sage: »Ich bin mittelmäÃig glücklich, stinknormal glücklich, völlig okay glück lich«, denken alle sofort, ich habe eine Krankheit. Oder fragen: »Und, was willst du dagegen tun? Mal ausspannen? Mal zu dir kommen?«
Ich glaube, nichts macht unglücklicher als die tägliche Erarbeitung von Glück. Das Glücksempfinden, so sehe ich das, ist seinem Wesen nach zu 90 Prozent retrospektiv. Glück ist kein Live-Gefühl.
aw:
Verstehe ich nicht. Warum willst du denn nicht zu dir kommen?
re:
Aber was soll ich denn dort die ganze Zeit? Bei mir?
aw:
Na du selbst sein. In dir ruhen.
re:
Lieber Maxim, vor Jahren noch gab es dieses Bierchen-nach-Feierabend-Glück. Meinetwegen auch das klassische Villa-und-Jacht- Glück. Beides finde ich völlig okay, beides scheint aber auch auszusterben. Es wird abgelöst vom Bewusstseins- und Beruhigungsglück, von der Idee, in sich selbst zu ruhen. Aber eigentlich ist es nichts anderes als das Eingeständnis: Ich bin 40, ich bin satt, mir ist langweilig, was mache ich jetzt? Mutti! Daran erinnerst du mich, Maxim. An 80 Kilo männliche Sattheit. Es ist ein Glücksideal, geboren aus Wohlstand, Ãkomoral, Langeweile und Bräsigkeit.
Ich finde es anstrengend, dass alle ihr Leben beruhigen wollen. Ist es denn so aufregend, dass es nicht zu ertragen wäre, das Leben? Warum will man sein Leben nicht aufladen, bereichern, mit Energie versehen, mit Veränderung, Wissen, Begierde, Lust, Exzess, Abenteuer? Sind das nicht mal die klassischen Männerträume gewesen? Die Triebkräfte eines Lebens vor dem 60. Geburtstag, einer Gesellschaft gar? Und jetzt?
Fahren alle ins Wellnesshotel mit Saunalandschaft und Aromatherapie und bunten Fruchtsäften und Ringelpiez oder ziehen sich in ihre Landhäuser in Brandenburg zurück und graben den Boden um und stecken Tulpenzwiebeln und glauben, dass das ganze Tulpenzwiebelgestecke irgendwie ihre Seele entspannt, bis sie merken, dass es erst mal nur zu Rückenschmerzen führt.
aw:
Jochen, komm erst mal ein bisschen runter.
re:
Ich will nicht runterkommen, Maxim. Ich würde gerne erst mal irgendwo raufkommen. Vielleicht leben wir in einer Entspannungsgesellschaft. Man glaubt nicht mehr an Gott. Sondern an die Entspannung. Man will nicht mehr ins Paradies am Ende aller Tage. Sondern ins Wellnesshotel nach Mecklenburg-Vorpommern oder zum Yoga workshop nach Südindien, gleich jetzt oder spätestens im Herbst. Ei gentlich ist das alles lustig, weil das Leben nie so entspannt war wie heute. Im Vergleich zu früheren Generationen. So sicher, so kommod, so wohlhabend. So wenig körperlich. So wenig angstbehaftet. Wir erholen uns von Strapazen, die es nicht gibt. Wir suchen Entspannung von einem Stress, der kaum existiert.
Mein Vater gräbt den Garten um, weil man den Garten umgräbt im Frühjahr. Weil es immer so war. Damit Luft in die Erde zieht. Weil der Garten es braucht.
Du, Maxim, gräbst deinen Garten um, weil du das Gefühl hast: Ich brauche das.
Zur Beruhigung.
aw:
Lieber Beruhigungsgegner, ich finde, du übertreibst. Ich spüre Verspannungen in deiner Seele, Jochen. Natürlich kommt diese Sehnsucht nach Ruhe für viele ein bisschen früh, aber das ganze Leben verschiebt sich doch auf seltsame Weise. Die Kinder müssen heute schon in der Kita Englisch lernen, weil ihre Eltern sich vor der Glo balisierung fürchten. Meine Töchter ackern in der Grundschule mehr, als ich es im Abitur getan habe. Der Druck ist riesig, alles muss von Anfang an perfekt sein. Die Weichen werden früh gestellt.
Vergangene Woche gab es einen Tag der offenen Tür in einem Gymnasium bei uns in der Nähe. Wir Eltern saÃen mit unseren blank geputzten Kindern in der Aula, und der Direktor hielt eine Rede, in der es darum ging, dass dort drauÃen der Kampf immer härter wird, weshalb auch die Schule härter werden müsse. Die machen jetzt Chinesisch ab der siebenten Klasse und
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