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Sprengstoff

Sprengstoff

Titel: Sprengstoff Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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hatten, mußte er nicht nachdenken und fühlte sich mit sich selbst im Einklang. Manchmal sang er auch lauthals die Lieder aus dem Radio mit. Oft dachte er sich, daß er einfach immer so weiterfahren könnte, immer der Straße nach. Unterwegs würde er sich Benzin auf Kreditkarten kaufen. Er würde immer nach Süden fahren, bis die Straßen oder das Land aufhörten. Ob man wohl bis zur Spitze von Südamerika durchfahren konnte? Er wußte es nicht.
    Aber er kehrte immer wieder nach Hause zurück. Vorher aß er noch in irgendeinem Autobahnrestaurant ein paar Hamburger und Pommes frites, dann bog er in die Stadt ab und war jeweils bei Sonnenuntergang oder kurz danach zu Hause.
    Er nahm jedesmal die Stanton Street, parkte den Wagen und sah sich die täglichen Fortschritte der 784-Autobahn an.
    Die Baufirma hatte extra eine Plattform für die Gaffer aufstellen lassen - hauptsächlich Rentner und Leute, die beim Einkaufen eine Minute übrig hatten -, und sie war den ganzen Tag voll besetzt. Sie reihten sich alle am Geländer auf wie Enten in der Schießbude, den weißen Dunst ihres Atems vor den Mündern, und glotzten auf die Bulldozer und Bagger, auf die Landvermesser mit ihren Sextanten und Dreifußstativen hinunter. Er hätte sie alle erschießen können!
    Aber am Abend, wenn das Thermometer auf -10° sank, wenn der Sonnenuntergang einen schmutzig-orangen Streifen am westlichen Horizont bildete und die Sterne schon kalt am Himmel blinkten, konnte er die Baufortschritte allein und ungestört begutachten. Die Augenblicke, die er auf der Plattform verbrachte, wurden ihm immer wichtiger - er vermutete, daß sie ihm auf eine geheime Art Kraft gaben und ihn mit einer Welt verbanden, die wenigstens zur Hälfte noch gesund war. In diesen Augenblicken, bevor er in seine allabendliche Betrunkenheit versank, bevor er den unvermeidlichen Drang bekämpfte, Mary anzurufen, bevor die abendli-chen Vorstellungen im Selbstmitleidsland wieder anfingen -
    war er vollkommen er selbst, fühlte er sich kalt und stocknüchtern. Er umklammerte das Eisengeländer mit bloßen Händen und starrte auf die Baustelle hinunter, bis seine Finger so gefühllos wie das Eisen wurden und er nicht mehr unterscheiden konnte, wo seine Welt - die Welt der menschlichen Dinge - endete und wo die Außenwelt der Bagger und Kräne und Aussichtsplattformen begann. In diesen Augenblicken mußte er nicht mehr flennen oder über die Katastrophe in der Vergangenheit nachgrübeln, die sein ganzes Leben durcheinandergebracht hatte. In diesem Augenblick spürte er, wie sein Selbst warm in der gleichgültigen Kälte des frühen Winterabends pulsierte, und er war ein wirklicher Mensch, vielleicht sogar ein gesunder.
     
    Jetzt, als er mit hundert Stundenkilometern über die Autobahn raste, sah er plötzlich, noch gut vierzig Meilen von der Westgate-Zahlstelle entfernt, eine eingemummte Gestalt auf dem Seitenstreifen stehen, als er gerade die Ausfahrt 16 passiert. Sie hatte einen dicken Armeemantel an und eine schwarze Strickmütze auf dem Kopf, und sie hielt ein Schild in die Höhe, auf dem (erstaunlich, in all dem Schnee) LAS VEGAS stand. Darunter stand trotzig geschrieben: ODER VERPISS DICH!
    Er trat auf die Bremse und spürte, wie der Sitzgurt ihm durch die abrupte Verlangsamung in die Seite schnitt. Dann ein hysterisches Kreischen seiner Räder auf dem Asphalt.
    Gut zwanzig Meter hinter der Gestalt hielt er am Straßenrand. Sie steckte schnell das Schild unter den Arm und kam auf ihn zugerannt. Etwas an der Art, wie sie rannte, sagte ihm, daß sein Anhalter ein Mädchen sei.
    Sie öffnete die Beifahrertür und stieg ein.
    »Hallo, danke schön.«
    »Bitte.« Er warf einen Blick in den Rückspiegel und fuhr auf die rechte Spur. Schnell beschleunigte er wieder auf hundert. Die Straße erstreckte sich wie immer vor ihm. »Ziemlich langer Weg nach Las Vegas«, bemerkte er.
    »Das kann man wohl sagen.« Sie warf ihm ein Lächeln zu, ihr Standardlächeln für alle Leute, die ihr sagten, wie weit es noch bis Las Vegas sei, und zog ihre dicken Handschuhe aus.
    »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich rauche?«
    »Nein, nein, rauchen Sie nur.«
    Sie holte eine Schachtel Marlboro hervor. »Möchten Sie auch eine?«
    »Nein, danke.«
    Sie steckte sich die Zigarette in den Mund, kramte eine Schachtel Küchenstreichhölzer aus ihrer Manteltasche hervor, zündete ihre Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch aus, der für einen Augenblick die Windschutzscheibe vernebelte.

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