Sprengstoff
Dann steckte sie die Marlboro-Schachtel und die Streichhölzer wieder weg, löste den blauen Wollschal um ihren Hals und sagte: »Ich bin Ihnen wirklich dankbar, daß sie mich mitnehmen. Ganz schön kalt da draußen.«
»Haben Sie lange gewartet?«
»Ungefähr eine Stunde. Der letzte Kerl war betrunken. Gott, war ich froh, aus seinem Wagen rauszukommen.«
Er nickte. »Ich nehme Sie bis zum Ende der Autobahn mit.«
»Ende?« Sie sah ihn verblüfft an. »Fahren Sie ganz bis nach Chicago?«
»Was? Oh, nein.« Er nannte ihr seine Stadt.
»Aber die Autobahn geht doch direkt durch Ihre Stadt.«
Sie zog eine Straßenkarte aus ihrer anderen Manteltasche, die vom häufigen Gebrauch überall Eselsohren aufwies.
»Jedenfalls steht das hier in der Karte.«
»Falten Sie sie noch mal auf und sehen Sie genau hin.«
Sie tat es.
»Welche Farbe hat der Autobahnabschnitt, auf dem wir gerade fahren?«
»Grün.«
»Und welche Farbe hat der Abschnitt, der durch die Stadt führt?«
»Grün gepunktet. Sie wird … ach, verdammt! Sie wird noch gebautl«
»Richtig. Der weltberühmte 784-Autobahnausbau. Sie werden nie nach Las Vegas kommen, Kindchen, wenn Sie Ihre Karte nicht genau lesen.«
Sie beugte sich so weit über die Karte, daß ihre Nase fast das Papier berührte. Ihre Haut war sehr hell, vielleicht sogar milchig-weiß, aber im Augenblick hatte die Kälte ihr eine zarte Röte auf die Wangen und die Stirn getrieben.
Ihre Nasenspitze war ganz rot, und neben dem linken Nasenloch hing ein Wassertropfen. Ihr Haar war kurzgeschnitten, aber es war ein schlechter Schnitt. Eine Pfusch-arbeit. Es hatte eine schöne kastanienbraune Farbe. Viel zu schade, um es zu schneiden, schlimmer noch, es so schlecht schneiden zu lassen. Wie war noch mal diese Weihnachtsgeschichte von O’Henry? ›Das Geschenk der Drei Weisen.‹ Für wen hast du eine Uhrkette gekauft, kleine Vagabundin?
»Die durchgehende grüne Linie fängt wieder an einem Ort an, der Landy heißt«, sagte sie. »Wie weit ist das von der Stelle entfernt, an der sie aufhört?«
»Zirka dreißig Meilen.«
»Verdammt.«
Sie beugte sich wieder über die Karte. Die Ausfahrt 15 flog an ihnen vorbei.
»Und wie ist die Umgehungsstraße?« fragte sie nach einer Weile. »Sie kommt mir ziemlich chaotisch vor.«
»Route 7 wird für Sie das beste sein«, antwortete er. »Es ist die letzte Ausfahrt, sie heißt Westgate.« Er zögerte. »Aber es wäre wohl am besten, wenn Sie’s für heute abend aufgeben.
Es gibt dort ein Holiday Inn. Wir werden kaum vor dem Dunkelwerden da sein, und Sie wollen doch bestimmt nicht im Dunkeln trampen.«
»Warum nicht?« Sie sah ihn an. Ihre Augen waren von einem verwirrenden Grün; eine Farbe, von der man mal liest, die man aber selten zu sehen bekommt.
»Es ist eine Stadtumgehung«, erklärte er und bog auf die linke Spur, um mehrere Wagen zu überholen, die nur sechzig fuhren. Einige hupten wütend. »Vier breite Spuren mit einem schmalen Mittelstreifen. Zwei führen westwärts nach Landy, zwei nach Osten in die Stadtmitte. Eine Menge Einkaufszentren, Hamburgerbuden, Bowlingbahnen und all das. Die Leute fahren nur kurze Strecken und halten gar nicht erst an.«
»Ja«, seufzte sie. »Fährt vielleicht ein Bus nach Landy?«
»Es gab da mal einen Bus, aber die Firma ist pleite gegangen. Vielleicht fährt der Greyhound.«
»Ach, Scheiße.« Sie knüllte die Karte zusammen und steckte sie in die Manteltasche zurück. Dann starrte sie müde und etwas besorgt vor sich auf die Straße.
»Können Sie sich kein Motelzimmer leisten?«
»Mister, ich hab’ gerade dreizehn Dollar bei mir. Ich könnte mir nicht mal ‘ne Hundehütte mieten.«
»Sie können bei mir übernachten, wenn Sie wollen.«
»Ja, und vielleicht lassen Sie mich gleich hier aussteigen.«
»Vergessen Sie’s, ich ziehe das Angebot zurück.«
»Außerdem, was würde Ihre Frau davon halten?« Sie blickte herausfordernd auf den Ehering an seinem Finger.
Der Blick schien anzudeuten, daß sie ihn für einen von den Kerlen hielt, die sich nachmittags in den Schulhöfen herumdrücken, wenn der Hausmeister gegangen ist.
»Meine Frau und ich leben getrennt.«
»Seit kurzem?«
»Ja. Seit dem ersten Dezember.«
»Und jetzt haben Sie all diese Komplexe, bei denen Sie Hufe gebrauchen könnten«, sagte sie. In ihrer Stimme lag Verachtung, aber es war ein altes Gefühl, das sich nicht speziell gegen ihn richtete. »Besonders die von einem jungen Küken.«
»Ich habe nicht die
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