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Spritzenmäßig: Kurioses, Krasses und Komisches aus der Notaufnahme

Spritzenmäßig: Kurioses, Krasses und Komisches aus der Notaufnahme

Titel: Spritzenmäßig: Kurioses, Krasses und Komisches aus der Notaufnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Tarneke
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meinem Chef in die Arme gelaufen und ehrlich, wenn ich mir überlege … oh Gott. Aber dank der OP -Hose hat der nichts gemerkt. Vielen Dank noch mal.«
    Gerührt sah ich ihm nach, wie er verschwand, und freute mich, einem Patienten auch jenseits der normalen Wundversorgung geholfen zu haben.
    ***
    Eigentlich war das Leiden von Gerda U. kein Fall für die Notaufnahme, und vermutlich hätte ich jeden anderen Patienten mit ähnlichen Beschwerden an den Hausarzt verwiesen.
    Doch Gerda U. war 97 Jahre alt und alleinstehend. Die rüstige alte Dame war seit über dreißig Jahren verwitwet, und ihre einzige Tochter lebte in den USA . Freunde hatte sie auch keine mehr, ein Schicksal, das viele alte Menschen mit ihr teilten. Gerda U. hatte alle ihre Freunde zu Grabe getragen, sie war als Einzige übrig geblieben.
    All das erzählte sie mir innerhalb der ersten fünf Minuten unseres Kennenlernens. Es war Sonntagmittag, die Zeit, in der die Einsamkeit bei alleinstehenden alten Menschen besonders böse zuschlägt. Viele gehen sonntagmorgens noch in die Kirche, aber danach, wenn alle anderen sich mit ihren Familien zum Mittagessen niederlassen, sind sie allein.
    Â»Mir tut der Fuß so weh!«, sagte Gerda U. »Ich kann kaum laufen.«
    Â»Sind Sie umgeknickt oder gestürzt?«
    Â»Nee, nee, das kommt von meinem Hammerzeh! Der macht mir seit Jahren Kummer. Nach’em Krieg ging das los …«
    Himmel! Sprach sie etwa vom zweiten Weltkrieg?
    Â»â€¦ der Winter ’45 war so hart …«
    Tatsächlich!
    Â»â€¦ da hab ich mir Erfrierungen an dem Fuß geholt. Direkt auf dem Hammerzeh. Der hat sich nie wieder erholt.«
    Â»Sie meinen, Sie haben seit 1945 Schmerzen?«
    Â»Im Prinzip ja.«
    Â»Und damit kommen Sie jetzt, nach über 65 Jahren, in die Notaufnahme?«, lag es mir auf der Zunge, aber natürlich verkniff ich mir diesen Kommentar.
    Â»Dann kommen Sie mal mit«, sagte ich stattdessen freundlich. »Können Sie bis zum Behandlungsraum laufen, oder soll ich Ihnen einen Rollstuhl holen?«
    Â»Einen Rollstuhl? Machen Sie Witze? Kein Mensch kriegt mich da jemals rein!«
    Ich bot ihr lächelnd meinen Arm an, damit sie sich darauf abstützen konnte, doch auch der wurde ausgeschlagen.
    Â»Junge Frau«, meinte die alte Dame tadelnd. »Ich habe den Krieg und zwei Ehemänner überlebt, ich komme gut alleine zurecht.«
    Und so humpelte sie stöhnend durch den Gang, bis wir am Behandlungszimmer angekommen waren.
    Â»Dann zeigen Sie mir doch bitte mal Ihren Fuß«, sagte ich, nachdem sie sich gesetzt hatte.
    Vorsichtig zog sie ihren rechten Schuh aus, und ein blütenweißer Strumpf kam zum Vorschein, den sie ebenso vorsichtig auszog.
    Der Zeh neben dem großen Zeh war gebogen wie eine Kralle. Hühneraugen zierten ihn und waren auch auf dem Rest des Fußes zu sehen, was bei alten Menschen allerdings häufiger vorkommt. Keines der Hühneraugen war jedoch durch einen speziellen Polsterverband oder ein Hühneraugenpflaster abgedeckt. Kein Wunder, dass Gerda U. Schmerzen hatte. Nur vom Hammerzeh kamen sie jedenfalls nicht, Hühneraugen konnten eine sehr schmerzhafte Angelegenheit sein.
    Â»Ich brauche den Vergleich zu Ihrem linken Fuß«, sagte ich. »Häufig kommt so eine Zehenfehlstellung an beiden Füßen vor. Und falls Sie dort auch Hühneraugen haben, sollten wir die gleich mit versorgen.«
    Â»Links ist nichts!«, sagte Gerda U. schnell.
    Â»Ich schaue es mir mal an«, entgegnete ich. »Ziehen Sie bitte Ihren Schuh aus.«
    Â»Nein!«
    Ich sah die alte Dame überrascht an. Wieso verweigerte sie sich plötzlich der weiteren Untersuchung?
    Â»Es wird nicht wehtun …«
    Â»Ach, darum geht es doch gar nicht.« Gerda U. klang nun fast weinerlich.
    Â»Aber um was geht es denn dann? Ich will mir den Fuß doch nur anschauen!«
    Schweigen.
    Â»Ich bin nicht darauf eingerichtet«, stieß die alte Dame schließlich beinahe trotzig hervor.
    Ich brauchte einen Moment, bis der Groschen bei mir fiel.
    Â»Das macht mir nichts, glauben Sie mir«, beruhigte ich sie.
    Ein Trugschluss.
    Nach weiterem guten Zureden zog Gerda U. schließlich ihren linken Schuh aus. Zum Vorschein kam das exakte Gegenteil vom blütenweißen rechten Strumpf: ein bräunlicher, zerlöcherter und unglaublich übel riechender Ex-Strumpf zierte ihren linken Fuß, und für einen Moment

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