Spür die Angst

um. Keine Jugos weit und breit. Er rief. Erhielt keine Antwort. Ging näher heran. Der Typ sah tot aus. JW ging neben ihm in die Hocke. Rief Jorges Namen. Wollte unter keinen Umständen einen Ermordeten auffinden.
    Schließlich kam eine Reaktion.
    Jorge mit geschlossenen Augen, nuschelnd: »Geh weg.«
    JW wusste nicht, was er sagen sollte. Dachte: Zum Glück lebt der Typ. Aber wie viel Hilfe benötigt er? Keine gute Idee, einen Krankenwagen zu rufen.
    »Hej. Wie fühlst du dich? Kann ich etwas für dich tun?«
    »Hau ab.«
    »Schön zu hören, dass du lebst. Ich weiß, wer du bist. Hab dich wiedererkannt. Ich hab mehrere Stunden lang nach dir gesucht.«
    Jorge öffnete ein Auge. Sein Schwedisch hatte einen leichten Rinkebydialekt: »Und wer zum Teufel bist du?«
    »Ich heiße Johan. Hör zu. Ich hab keine Ahnung, wer dich so zugerichtet hat und aus welchem Grund. Du siehst jedenfalls entsetzlich aus. Brauchst bestimmt ärztliche Hilfe. Aber du musst mir zuhören. Ich hab gute Neuigkeiten.«
    »Hau ab, hab ich gesagt. Du hast nicht die Bohne mit mir zu tun. Ich hab dich noch nie gesehen.«
    »Nun mal langsam. Du heißt Jorge Salinas Barrio und bist am neunundzwanzigsten August aus Österåker geflohen. Seitdem bist du auf der Flucht, was ich mir nicht ganz leicht vorstelle. Du kennst dich im Kokain-Business aus wie kein Zweiter. Du bist der König des Cola im gesamten Umkreis von Stockholm. Hörst du mir zu?«
    Jorge lag unbeweglich da. Sagte nichts. Aber er widersprach auch nicht.
    »Ich arbeite für einen Araber – Abdulkarim Haij, kennst du ihn?«
    Jorge schaute wieder auf. JW deutete seine Reaktion als: rede weiter.
    »Er versorgt mich mit K. Ich verkauf das Zeug an die Leute auf Stureplan und verdiene damit richtig gutes Geld. Bis zu elfhundert das Gramm kann man von denen bekommen. Das ist nicht schlecht. Aber stell dir vor, wie es wäre, wenn man den Einkaufspreis noch mehr drücken könnte. Genau das werden wir nämlich tun, wenn wir expandieren. Tja, und jetzt kennen wir dich. Wie es aussieht, bist du ohne unsere Hilfe sowieso geliefert. Denn offenbar gibt es außer der Polizei noch andere Leute, die dir auf den Fersen sind. Jetzt kannst du sie vergessen. Wir helfen dir, bringen dich wieder auf die Beine. Besorgen dir einen Pass, Pesetas, alles, was du brauchst. Dann hat die Polizei keine Chance. Und die Jugotypen auch nicht. Wenn du für uns arbeitest, bist du ein gemachter Mann.«
    JW holte Luft. Er pfiff darauf, dass Jorge offenbar völlig abwesend war. Er spürte, wie aufgekratzt er selber war, hatte sich schon seit Tagen seine Worte zurechtgelegt. Dementsprechend schwer fiel es ihm jetzt, sich zurückzuhalten.
    »Hör zu, wir haben die Entwicklung in Stockholm verfolgt. Cola ist auf dem Weg in die Außenbezirke. Das Zeug ist absolut im Trend, die neue Droge für jedermann. Wie früher Gras. Und der Preis geht jeden Tag weiter nach unten. Als du damals in den Knast gewandert bist, kostete das Gramm zwölfhundert. Und jetzt verkaufen sie fünfundachtzigprozentiges Charlie für achthundert. Das führt dazu, dass die Gesamtmenge in die Höhe schnellt und wir, dank unserer guten Kontakte, zu reduzierten Preisen einkaufen können. Unsere Gesamteinnahmen erhöhen sich damit sprunghaft. Und hier kommst du ins Spiel. Du sollst uns dabei helfen, noch größere Mengen zu importieren. Vor allem aber musst du die Leute in den Vororten pushen. Du und wir, gemeinsam werden wir diese Stadt regieren. Kapierst du das? Die ganze Stadt.«
    Jorge, mit erstickter Stimme: »
Maricon,
hau ab.«

Teil 2
    (vier Monate später)
    Protokoll
    Mündliche Verhandlung im Amtsgericht Stockholm
    Aktenzeichen Nr. T 3245-06
    Das Gericht
    Patrick Renbäck
    Vorsitzender Richter am Amtsgericht
    Protokollführer
    Gerichtsassessor Oskar Hävermark
    PARTEIEN
    Klägerin
    Annika Sjöberg,
    690217-1543
    Gröndalsvägen 172
    117 69 STOCKHOLM
    Persönlich anwesend
    Vertreten durch:
    Rechtsanwalt
    Göran Insulander
    Box 11244
    112 21 STOCKHOLM
    Anwesend
     
    Beigeordnet im Wege der Prozesskostenhilfe
    Beklagter
    Mrado Slovovic,
    670203-9115
    Katarina Bangata 35
    116 39 STOCKHOLM
    Persönlich anwesend
    Vertreten durch:
    Rechtsanwalt
    Martin Thomasson
    Box 5467
    112 31 STOCKHOLM
    Anwesend
    SACHE
    Sorgerecht, Aufenthaltsbestimmungsrecht, Umgangsrecht u.a.
    Der Vorsitzende trägt den Sachverhalt vor.
    ANTRÄGE
    Göran Insulander beantragt, Annika Sjöberg im Wege der einstweiligen Verfügung das alleinige Sorgerecht für die gemeinsame Tochter Lovisa zu