Spür die Angst
mental vor. Denn gleich würde er das Zimmer aufsuchen. Ihr Zimmer.
Er zappte zwischen den Programmen hin und her. Blieb für fünf Minuten bei MTV hängen, wo ein Video mit Snoop Doggy Dog lief. Die Hintern wackelten im Takt mit der Musik.
Er stellte den Fernseher aus.
Sprang rüber in den Drehsessel.
Drehte sich eine Runde.
Er fühlte sich leer. War angespannt. Aber merkwürdigerweise nicht unruhig.
Er machte das Licht aus.
Setzte sich wieder.
Die Stille war weitaus intensiver als im Tessinpark.
Er stand auf.
Versuchte lautlos die Treppe hinaufzugehen. Erinnerte sich bei fast jedem Schritt daran, welche Stufe knarrte und welche Strategie er anwenden musste, um es zu vermeiden. Den Fuß auf das innere Drittel setzen, den Fuß in die Mitte, eine ganze Treppenstufe überspringen, den nächsten Schritt weit nach außen, dann auf die schmale Seite und so weiter, bis ganz nach oben.
Zwei weitere Stufen hatten zu knarren begonnen, seitdem er ausgezogen war.
Möglicherweise weckte er Bengt nicht. Aber Margareta weckte er sicher.
Die Tür zu Camillas Zimmer war geschlossen.
Er wartete. Hoffte, dass seine Mutter vielleicht wieder eingeschlafen war. Zog die Tür an den Türrahmen heran und drückte gleichzeitig die Klinke runter. Kein Laut zu hören.
Als er die Lampe anknipste, fielen ihm als Erstes die drei Baseballkappen ins Auge, die Camilla an die gegenüberliegende Wand gehängt hatte. Eine dunkelblaue NY -Kappe, eine Red-Sox-Kappe und eine von ihrem Schulabschluss nach der Neunten. Die Aufschrift: Wir sind verdammt gut – schwarze Buchstaben auf weißem Untergrund. Camilla liebte Kappen, wie ein dickliches Kind Kekse liebte. Unkompliziert. Wenn sie welche sah, wollte sie sie haben.
Das unangetastete Zimmer einer Siebzehnjährigen. Nach JW s Auffassung wirkte es irgendwie noch kindlicher.
In der Mitte der Schmalseite befand sich ein Fenster. Gegenüber stand das Bett. Camilla hatte ein Jahr lang darum gebettelt, ein ein Meter zwanzig breites Bett zu bekommen. Rosafarbener Überwurf mit Volant. Kissen in unterschiedlichen Farben, einige mit Herzen drauf, lagen am Fußende des Bettes verteilt. Margareta hatte sie genäht. Camilla hatte die Kissen vor dem Einschlafen regelmäßig auf den Boden gekickt.
Ein Mädchenzimmer.
Jeder Gegenstand weckte eine Erinnerung.
Jedes Stück wie ein Schlag gegen JW s Schutzschild.
Auf einem Bücherregal lagen weitere Kappen. Auf dem obersten Brett standen gerahmte Fotos: die Familie in Idre, JW als Baby, drei Schulfreundinnen – geschminkt, lächelnd, neugierig auf das Leben.
Die anderen Regalbretter waren ebenfalls angefüllt mit Kappen.
Oberhalb des Bettes hing ein Poster von Madonna. Eine starke, eigensinnige und erfolgreiche Frau. Camilla hatte es von einem Typen geschenkt bekommen, mit dem sie in der achten Klasse gegangen war. Er war vier Jahre älter und wurde vor den Eltern geheim gehalten.
JW fiel auf, dass er nach ihrem Verschwinden, als er noch zu Hause gewohnt hatte, niemals in ihr Zimmer gegangen war. Es war jetzt so viele Jahre unbewohnt, dass die aufgestauten Erinnerungen ihn wie ein Fausthieb trafen.
Camilla während ihres Schulabschlusses nach der Neunten. Hochgestecktes Haar. Weißes Kleid. Später am Abend: mit Baseballkappe in Tarnfarben. Die Geschichten, die JW über ihre Ausschweifungen während des Abschlussfestes gehört hatte. Nächste Erinnerung: Camilla und JW , wie sie sich um den letzten Rest im Nutellaglas prügeln. JW in ihr Zimmer gezerrt, windelweich geprügelt und schließlich völlig verschmiert mit seiner eigenen Scheibe Brot mit einer extra dicken Schicht Nutella drauf. Später: Camilla neben ihm auf der Bettkante, nachdem sie sich wieder vertragen hatten. Sie hatte ihm ihre CD s gezeigt: Madonna, Alanis Morissette, Robyn.
Las ihm die Klappentexte vor. Redete davon, dass sie unbedingt nach Stockholm gehen wollte.
Genoss es, mit ihm herumzuhängen.
An der linken Wand befanden sich ein Einbauregal und zwei Schränke mit Spiegeltüren.
Im Regal standen die ausgelesenen Jugendbücher und CD s, die sie nicht mit nach Stockholm genommen hatte. Eine Sony-Stereoanlage, ihr Konfirmationsgeschenk. Camilla hörte lieber Musik, als dass sie las.
JW öffnete die Schränke.
Kleidung: Stretchjeans, Miniröcke, pastellfarbene bauchfreie Tops, Jeansjacken. Ein schwarzer Cordmantel. JW erinnerte sich daran, wie Camilla eines Tages mit ihm nach Hause kam. Sie hatte ihn ganz alleine bei H&M in Robertsfors für vierhundertneunundneunzig
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