Spür die Angst
hatte. Es lag mehrere Monate zurück, dass er sie getroffen und sie ihm den Tipp gegeben hatte, Jan Brunéus aufzusuchen.
Es war, als sei er über einen längeren Zeitraum hinweg wie gelähmt gewesen. Hatte es nicht geschafft, in der Camilla-Geschichte voranzukommen. Schob das K-Business, sein Studium, die Beziehung zu Sophie vor. Und wenn er dann schließlich Nachforschungen betrieb, geschah es stoßweise, unregelmäßig.
Susanne stand an der Kasse. Es waren wenig Kunden im Laden. JW bat darum, sie kurz sprechen zu dürfen. Kein Problem, eine andere junge Frau übernahm die Kasse. Susanne und JW stellten sich in die Jeansabteilung.
Die Situation stresste sie offenbar. Sie schaute unruhig nach rechts und links, hielt nach Kunden Ausschau, nach ihren Kolleginnen, wer auch immer auf die Idee kommen mochte zuzuhören.
»Es tut mir leid, wenn ich hier so reinplatze und dich bei der Arbeit störe. Wie geht es dir?«
»Na ja, ganz okay.«
»Und den Kindern?«
»Denen geht’s auch gut.«
»Ich wollte dir nur erzählen, dass ich Jan Brunéus getroffen habe, euren damaligen Lehrer.«
»Aha.«
»Ich versuch, es kurz zu machen. Er meinte, dass es Camilla ziemlich schlechtging. Dass sie sich umgebracht hätte. Und dass er Versuche unternommen hätte, sie aufzumuntern, ihr zu helfen. Er macht sich Vorwürfe, dass es so gekommen ist.«
»Aha?«
JW wartete. Susanne musste doch irgendetwas dazu zu sagen haben.
Keine Reaktion.
»Was meinst du dazu?«
»Ich weiß auch nicht mehr als das. Es wird wohl so sein, wie Jan gesagt hat.«
JW beobachtete ihre Gesten.
»Susanne, natürlich weißt du etwas. Warum gab Jan Camilla nur Einser, obwohl ihr andauernd geschwänzt habt?«
Susanne legte ein Paar Jeans zusammen. Wollte nicht antworten. JW sah es deutlich – ihre Wangen röteten sich.
»Verdammt, Susanne, antworte mir.«
Sie nahm behutsam ein anderes Paar Jeans hoch. Verschlissenes Design im Knie- und Oberschenkelbereich. Sie legte die Hosenbeine aufeinander. Faltete die Hose zweimal. Die Gesäßtaschen und das Preisschild symmetrisch zueinander. Das Divided-Logo gut sichtbar für den Kunden.
Die Hintergrundmusik im Laden unzweifelhaft: Robbie Williams.
»Hast du es tatsächlich immer noch nicht kapiert? Kanntest du deine Schwester etwa nicht? Wusstest du nicht, worin sie begabt war? Frag Jan, den geilen Bock, wenn du ihn das nächste Mal triffst. Glaubst du etwa, dass Camilla in den anderen Fächern eine Eins bekommen hätte? Nein. Natürlich nur bei ihm. Weißt du, wie aufgebrezelt sie in seinen Unterricht kam?«
JW konnte ihr nicht folgen. Was redete sie denn da?
»Verstehst du denn nicht, für die Dauer eines gesamten Semesters war Camilla Jans Spielzeug. Gute Noten im Austausch gegen Sex. Dieses Schwein hat sie gefickt.«
Der Zug fuhr durch Sundsvall. Der Schaffner rief: »Noch jemand zugestiegen?« JW schlug die Augen auf. Wieder bei vollem Bewusstsein. Zwei Monate war es jetzt her, als Susanne Pettersson die Erklärung für Camillas gute Noten nahezu herausgeschrien hatte.
Wer war eigentlich seine Schwester? Oder wer war sie gewesen? War sie wie er eine Person, die auf der Suche nach Glück in den falschen Kreisen gelandet war? Die dem Druck nicht standhalten konnte und die Stadt verlassen hatte? Oder hatte jemand anderes dafür gesorgt, dass sie von der Bildfläche verschwand? Und wenn ja, warum?
JW hatte Hunger, wollte aber nichts essen. In anderthalb Stunden würde er am Abendbrottisch seiner Eltern sitzen, und da wäre es nicht angebracht, wenn er keinen Appetit hätte. Schon satt wäre.
Er stand auf. Ging in Richtung Speisewagen. Nicht, weil er vorhatte, sich dort etwas zu kaufen, sondern weil er Hummeln im Hintern hatte. In den letzten Monaten hatte ihn zunehmend Rastlosigkeit befallen. Immer wenn er sich zum Lernen hinsetzen wollte, während der Vorlesungen, wenn er auf Fahdi oder jemand anderen wartete, der ihn mit Cola versorgen sollte. Er musste dauernd in Bewegung bleiben. Seine Konzentration auf etwas lenken. Er lernte so langsam, damit umzugehen. Sich darauf einzustellen. Hatte immer seinen Sony-Player in der Jackentasche, nahm sich oftmals ein Taschenbuch mit, lud neue Spiele auf sein Handy. Die Ränder seiner Schreibblöcke für die Uni waren vollgekritzelt mit Strichmännchen.
Im Augenblick hatte er allerdings eher das Bedürfnis, sich zu bewegen. Es würde nicht ausreichen, ein Game auf seinem Handy zu spielen. Er musste sich die Beine vertreten. Die Frage, die ihn beunruhigte:
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