Spur der Flammen. Roman
Wesen wie Emma. Wer war überhaupt dieser Keyes, dass er eine derart hohe Meinung von ihm hatte? Wo doch sonst niemand große Stücke auf ihn hielt, am wenigsten Jeremy Lamb selbst. Sah Keyes in ihm einen Einfaltspinsel, der einen solchen Unsinn für bare Münze nahm? »Sie sind eine Seele von Mensch, Mr.Lamb.« Lächerlich.
Erregt lief Jeremy in dem engen Raum auf und ab, war abwechselnd wütend, frustriert, angewidert von sich selbst und hoffnungslos verliebt. Keyes schien ihn gar nicht zu beachten – er verpasste seinen auf dem Boden ausgebreiteten Plänen den letzten Schliff. Was Jeremy im Kopf herumging, war viel wichtiger: Seine Freilassung würde zeitlich beängstigend nahe an die Eröffnung der Jagdsaison beim Herzog von Norfolk herankommen, und Jeremy musste vorher noch unbedingt in die Savile Row und seine entsprechende Garderobe zusammenstellen. Blieb nur zu hoffen, dass sein Schneider verfügbar war, denn auf einen anderen auszuweichen …
»Und hier, meine Damen und Herren, haben wir die Zellen mit den heimtückischsten und blutrünstigsten Verbrechern – alles Männer, die auf den Henker warten oder lebenslang hinter Schloss und Riegel bleiben. Treten Sie näher und machen Sie sich selbst ein Bild von diesen Unholden.«
Schon wieder diese Touristen. Jeremy war froh, dass Emma noch nicht da war. Am liebsten hätte er ihnen den Eimer mit dem Schmutzwasser entgegengeschleudert.
»Wann findet die Hinrichtung von dem da statt?«, fragte eine aalglatte Stimme von oben herab. Der Mann, dem sie gehörte, deutete auf Frederick. Jeremy musterte den Touristen eingehender. Groß und schlank, Imponiergehabe, maßgeschneiderter Anzug. Nicht zu verkennen jedoch die Härte um die Augen und ein Zug von Grausamkeit um den Mund. Solche Typen waren Jeremy nicht fremd.
Warum deutete er ausgerechnet auf Keyes?
»Weiß noch nicht, euer Lordschaft«, meinte der Gefängniswärter. »Der Henker hat verdammt viel zu tun. Die Richter schicken uns die Todeskandidaten schneller, als wir sie aufknüpfen können. Und jetzt gehen wir weiter und werfen als Nächstes einen Blick in den Frauentrakt, in dem die liederlichsten Frauenzimmer von London untergebracht sind …«
Die Gruppe zog weiter, nur der hoch gewachsene Mann ließ sich noch Zeit, starrte auf den am Boden knienden Keyes. Seine Lippen kräuselten sich zu einem zynischen Lächeln. Instinktiv schaute Frederick auf, und sein Gesicht nahm einen Ausdruck an, der Jeremys Blut gefrieren ließ.
Frederick hatte den Touristen erkannt.
Der jetzt sagte: »Dafür ist es zu spät. Die Fallen werden bereits aufgestellt.« Leise vor sich hinlachend schlenderte er davon, während Frederick wie erstarrt dahockte.
Jeremy half ihm auf die Beine. Keyes’ Hand war schweißnass, sein Gesicht aschgrau. »Stone …«, flüsterte er, als Jeremy ihm einen Becher Wasser an die Lippen setzte. Stone, der Mann, der ihn hierher gebracht hatte.
Und der Emma begehrte.
»Uns bleibt nicht viel Zeit, Jeremy«, sagte Frederick hastig. »Sie werden morgen entlassen. Deshalb muss ich Ihnen jetzt ein Geheimnis anvertrauen.«
Der Auftritt von Desmond Stone hatte Jeremy tief aufgewühlt.
Alle seine bisherigen Entschlüsse schienen hinfällig. Er konnte nicht zulassen, dass dieser Teufel Hand an die liebreizende Emma legte.
»Mir wurde wegen verräterischer Gesinnung, die als Hochverrat deklariert wurde, der Prozess gemacht. Man hat mich verurteilt, weil ich behauptet habe, es gebe eine höhere Autorität als die von Krone und Gott. Jeremy, ich bezog mich dabei auf die Menschheit, konnte dies dem Gericht aber nicht vortragen, weil es das bestgehütete Geheimnis der Alexandrier ist.«
Jeremy verstand kein Wort, aber das tat nichts zur Sache. Wie Frederick ahnte er, dass Stones Aufkreuzen an der Gittertür darauf hindeutete, dass der Tag der Hinrichtung kurz bevorstand. Keyes’ Architekturpläne waren fertig und warteten darauf, von Emma abgeholt zu werden. Blieb nur noch, Jeremy in das Geheimnis einzuweihen. Das musste sein – zu Emmas Schutz.
»Wir sind keine Spinner, Mr.Lamb. Alexandrier sind gebildete, denkende Menschen, denen bewusst ist, dass die Menschheit an der Schwelle zu einer erstaunlichen Veränderung steht. Dieses anbrechende Zeitalter wird eine Explosion neuer Techniken mit sich bringen, wie sie die Welt noch nicht erlebt hat. Dampfbetriebene Lokomotiven – Sie haben sicher schon gehört, dass dergleichen im Bergbau eingesetzt wird – werden in ständig steigender
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