Spur der Flammen. Roman
die aus welchen Gründen auch immer nicht ins Alte Testament aufgenommen wurden.«
Ermutigt durch Jeremys lebhaftes Interesse, das sich allein schon in seiner Haltung ausdrückte – vorgebeugt, die Ellbogen auf den Knien, die Hände andächtig gefaltet –, fuhr Emma fort: »Wir stehen kurz davor, die Sammlung zu vervollkommnen. Uns fehlt noch ein Gesang von Mirjam und vielleicht ein oder zwei weitere Evangelien. Und dann können wir mit einer vollständigen Bibel in ihrer ursprünglichen Form aufwarten.«
Jeremys Aufmerksamkeit galt Emmas Hut, der mit Bändern und Blumen verziert war. Dass sie ihn niemals abnahm, beschäftigte ihn sehr. Löckchen spitzten unter den Rändern hervor, kastanienbraune, irrsinnig aufreizende Schnörkel. Je öfter er sie mit diesem Hut sah, umso größer wurde sein Wunsch, ihn ihr abzunehmen und ihr mit den Fingern durchs Haar zu fahren. Wahrscheinlich verbargen sich unter diesem Hut dicke, zu einem kunstvollen Knoten verschlungene glänzende Flechten, die nur darauf warteten, von einem Mann gelöst zu werden.
Emma brachte ein kleines Buch zum Vorschein. »Das hier dürfte Sie bestimmt interessieren, Mr.Lamb.«
Das Thomas-Evangelium.
Sie las daraus vor.
»Die Schüler sagten zu Jesus: ›Sage uns, in welcher Weise unser Ende sein wird!‹ Jesus sagte: ›Habt ihr denn schon den Anfang entdeckt, dass ihr nach dem Ende fragt? An dem Ort, wo der Anfang ist, dort wird das Ende sein. Selig ist, wer am Anfang stehen wird. Und er wird das Ende erkennen und den Tod nicht kosten.‹
Jesus sagte: ›Wenn man zu euch sagt: Woher seid ihr gekommen?, sagt zu ihnen: Wir sind aus dem Licht gekommen, dem Ort, wo das Licht durch sich selbst geworden ist.‹«
Die Löckchen zitterten. Wie gern hätte Jeremy darüber gestrichen!
»Jesus sagte: ›Ich bin das Licht, dieses, das über allen ist. Ich bin das All; das All ist aus mir gekommen. Und das All ist zu mir gelangt. Spaltet ein Holz, ich bin da. Hebt den Stein auf, und ihr werdet mich dort finden.‹
Und Jesus sagte zu seinen Schülern: ›Ich bin aus dem Ersten Mysterium hervorgegangen, welches das letzte Mysterium ist, das Mysterium, das der Kopf aller Dinge ist, die existieren. Es ist die Vollendung der Vollendungen, es ist der Hort des Lichts.‹« Sie klappte das Buch zu. »Wir nennen es die Luminanz.«
Für Jeremy war Emma die Luminanz. Sie hatte Licht in seine dunkle Welt gebracht, sie war sein Leuchtturm. Und er war im Begriff, sich rettungslos zu verlieben. »Erzählen Sie mir mehr darüber«, sagte er mit stockender Stimme.
»Vor mehr als zweitausend Jahren wurde Alexander dem Großen vorhergesagt, dass uns alle ein großes, wunderbares Licht erwartet, Mr.Lamb. Die Luminanz. Dass Gott im Licht zu uns kommt und alle Menschen aus der Vergangenheit und Gegenwart im Licht vereint. Denn wir sind aus Licht gemacht, und ins Licht werden wir zurückkehren, um wieder mit denen, die wir lieben, zusammen zu sein.«
»Wenn ich das nur glauben könnte«, seufzte Jeremy und fügte für sich hinzu:
Meine liebste Emma.
»Tod bedeutet nicht Dunkelheit, Mr.Lamb, sondern Licht. Der Tod ist nicht das Ende, sondern ein Anfang.«
Der über sein Lineal und seine Diagramme gebeugte Frederick Keyes blickte auf zu der Frau, die er liebte, und wurde sich schmerzvoll bewusst, dass seine Rechnung aufging.
Er brütete weiterhin über seinen Entwürfen. Emma spielte mit Jeremy Karten, wurde aber abgelenkt, als sie merkte, dass sich außerhalb der Gittertür eine ansehnliche Zahl Neugieriger eingefunden hatte, die in die Zelle schauten, hierhin und dorthin deuteten. Einige lachten, andere schüttelten den Kopf, zwei Damen schluchzten in ihre Taschentücher. »Wer sind denn die da?«
»Touristen. Sie zahlen dafür, einen Blick auf Häftlinge zu werfen, auf die der Henker wartet.«
Emma sprang auf. Die Spielkarten glitten ihr aus der Hand. »Was ist nur in euch gefahren, ihr widerliches Gesindel?!«
»Nur die Ruhe«, sagte der Gefängniswärter. »Kein Grund zur Aufregung, Missy. Sie haben schließlich dafür bezahlt.« Er wandte sich der Gruppe zu und sagte unüberhörbar: »Hinrichtungen finden jeweils am Montagmorgen statt. Ein unvergessliches Schauspiel für jedermann. Der Sitzplatz an einem der Fenster mit Blick auf den Galgen kostet zehn Pfund. Lohnt sich durchaus, wenn Sie mich fragen. Und jetzt gehen wir weiter.«
Frederick unterbrach seine Arbeit und bemühte sich um Emma, zog sie außer Hörweite der anderen. »Mach dir nichts draus«,
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