Spur der Flammen. Roman
verstand Candice, was vor so vielen Jahren zur Entfremdung zwischen Professor Masters und Glenn geführt haben musste: Der Sohn ging radikal seine eigenen Wege und ließ die Träume seines Vaters platzen.
Sie sah das Flackern in seinen Augen und wusste, dass sie ihm für einen Moment zu nahe gekommen war, zu nahe an seine Gefühle, zu nahe an das, was er verbergen wollte. »Es ist spät«, murmelte er. »Ich zeige Ihnen das Gästezimmer.«
Er nahm ihre kleine Reisetasche, obwohl die so gut wie nichts wog und obwohl ihre einzige Wunde ein Kratzer am Hals war. Ohne jedes Aufhebens behandelte er sie wie eine Prinzessin.
Er ging die Treppe hinauf und einen Flur entlang. Eine Tür stand offen, und was Candice erblickte, ließ sie unvermittelt innehalten.
Der Raum war voller Bilder, auf dem Boden gestapelt, an die Wand gelehnt, auf Staffeleien – ein Maleratelier. Glasschiebetüren führten auf einen Balkon, der noch über den Baumwipfeln lag. Jetzt waren sie kahl, aber in wenigen Wochen würden sie belaubt und in voller Blüte dastehen. Bestimmt ein sehr sonniges Zimmer, das durch die Motive der Bilder noch heller wurde.
Es schien sich um abstrakte Gemälde von Galaxien, Sternhaufen und Spiralnebel zu handeln, alle weiß, elfenbeinweiß, Flecken von opalisierendem und perlweißem Schnee, umgeben von goldenen Lichtringen und safrangelben und topasgoldenen Wolken mit dem zartesten Hauch von Blau, Saphir, Aquamarin, Lapislazuli und Türkis. Obwohl sich die Gemälde irgendwie ähnelten, waren sie doch auch sehr verschieden, einige davon explosiv, andere auf sanfte Weise glühend.
Und da begriff sie: Er malte das Licht.
»Das ist etwas, das ich bei meinem Unfall erlebt habe. Ich befand mich auf einem Alleingang am Blacktail Butte in Wyoming …«
»Alleingang?«
»Ja, man klettert die Steilwand ohne Sicherung, nur mit dem Kreidebeutel und den Kletterschuhen. Ich ›schmierte ab‹, wie man unter Bergsteigern sagt. Es war ein Screamer, das heißt, ein sehr langer Sturz. Während des Fallens sah ich dieses Licht.« Er deutete auf die Leinwände um sie herum. »Seither habe ich versucht, diesen Eindruck einzufangen und festzuhalten. Ich glaube, man nennt es die Luminanz, aber ich bin mir nicht sicher.«
»Die Luminanz?«
»Das Wort kam mir beim Fallen in den Sinn. Ich habe es noch nie zuvor gehört. Zumindest glaube ich das.«
Was immer die Luminanz sein mochte, sie war atemberaubend schön. »Verkaufen Sie die Bilder?«, fragte Candice und wusste die Antwort schon.
»Sie sind unverkäuflich.«
Als er sich umständlich räusperte und unbehaglich von einem Bein aufs andere trat, wurde ihr plötzlich klar, dass er diese Bilder noch nie jemandem außer ihr gezeigt hatte. Sie hatte einen Schritt in ein verschlossenes, geheimes Reich gemacht.
Mit einem Mal schaute Glenn sich mit gerunzelter Stirn um.
»Das ist merkwürdig«, murmelte er.
»Was?«
»Eins der Bilder fehlt.«
»Sind Sie sicher?«
»Es stand genau dort.« Er wies auf eine Stelle vor der begehbaren Garderobe. »Es war eines der frühen Bilder.«
»Könnte es jemand genommen haben?«
Sein Stirnrunzeln vertiefte sich. Warum sollte jemand in seine Wohnung einbrechen und ein einziges Gemälde stehlen? Dann sagte er: »Mrs.Charles, die Frau, die einmal die Woche zum Putzen herkommt. Ich erkläre ihr immer wieder, sie bräuchte hier nicht zu putzen, aber sie behauptet, wenn sie nicht wenigstens Staub saugen darf, werden wir in Staub ersticken. Das wird’s wohl sein. Sie hat das Bild irgendwo anders hingestellt.«
Glenn blieb auf der Türschwelle stehen, wie um sich zu vergewissern, dass Mrs.Charles nicht die Missetäterin sein konnte. Während er das tat, erhaschte Candice noch einmal einen Blick auf die Bilder und entdeckte etwas, das sie aus der Nähe nicht hatte wahrnehmen können.
In beinahe jedem Gemälde war ein Gesicht verborgen.
Der Arzt in dem knisternd weißen Arztkittel, das Stethoskop um den Hals geschlungen, schlenderte über den Krankenhausflur. Es war schon spät, und es herrschte kaum noch Betrieb. Er nickte dem uniformierten Polizisten vor der Intensivstation freundlich zu. Der Polizist warf einen Blick auf das Namensschild am Revers des Arztkittels und nickte zurück.
»Wen haben wir denn da drin? Einen VIP ?«
»Versuchter Mord. Höchste Sicherheitsstufe.« Der Cop wirkte gelangweilt.
»Na, dann viel Glück«, meinte der Arzt und setzte seinen Rundgang fort.
An einem Wasserspender hielt er an, nahm einen Schluck, dann
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