Spur der Flammen. Roman
de Valliers seine Pflichten vergessen. Er suchte keinen Kontakt zu anderen Alexandriern, wie Bruder Christofle drängte, aber auch keiner der anderen war auf die Gesellschaft von Mitgliedern des Ordens erpicht. Jeder berauschte sich an seinen eigenen Vorstellungen von Mut und Tapferkeit und den Reichtümern, die ihrer harrten. Auf Bücher verschwendeten sie keinen Gedanken, aber natürlich würden sie sie mitbringen, wie dies ihr Auftrag war.
In jedem Weiler, jedem Dorf und jeder Stadt forschte Alarich nach seinem Bruder, mischte sich unter die Bewohner und fragte: »Kennt jemand Baudouin de Valliers? Hat ihn jemand gesehen oder von ihm gehört?« Wenn neue Armeen zu seiner Gruppe stießen, ritt er zu den Männern und suchte unter den Gesichtern nach dem seines Bruders.
Christofle sah beunruhigt, dass Alarichs Rachegelüste nicht abklangen, sondern im Gegenteil noch zunahmen, und warnte ihn: »Habt Ihr schon einmal überlegt, dass Ihr es sein könntet, der bei einem Duell mit Baudouin sein Leben verliert?«
Alarich lachte bitter. »Mir ist es egal, ob ich lebe oder sterbe, denn das Einzige, was ich je geliebt habe, ist für immer von mir gegangen. Alles Leben ist aus mir gewichen. Wein schmeckt wie Wasser, Fleisch wird in meinem Mund zu Sägespänen. Alle Freude, alles Glück ist mir entrissen worden. Mir bleibt nur noch ein Wunsch: meinen Dolch in die Brust meines Bruders zu stoßen.«
Tage gingen in Nächte über und Nächte in Wochen, und der Umfang der Truppe schwoll ständig an. Ritter, die sich einst gegenseitig überfallen hatten, ritten jetzt Seite an Seite mit dem Ziel, das Heilige Land von den Ungläubigen zu erretten. Immer mehr Gruppen folgten, darunter die eigene Armee des Papstes. Die Nachricht verbreitete sich durch Europa und weitere Männer vernahmen den hehren Ruf: Comte Bohemond di Taranto, der gerade Amalfi belagerte, als die Nachricht von den Kreuzträgern ihn erreichte, zerschnitt seinen kostbarsten roten Mantel, um daraus Kreuze für seine Ritter fertigen zu lassen, verließ Amalfi und brach ins Heilige Land auf. Bajuwaren, Alemannen und andere deutsche Fürstentümer ehrten ihr altes Versprechen gegenseitiger Unterstützung und eilten ihren fränkischen Brüdern zu Hilfe, marschierten gemeinsam, Lehnsherren und Vasallen, Barone und Herzöge, Prinzen und Ritter, ausgerüstet mit Pallasch und Axt, Armbrust und Kruzifix.
Bruder Christofle drohte allmählich zu verzweifeln. Wie oft hatte er Alarich beschworen, sich ganz in den Dienst dieser heiligen Sache zu stellen und wie ein Ritter und Ehrenmann zu handeln! Aber in Alarichs Adern floss Gift. Er ließ sich den Bart nicht mehr schneiden, sein Haar verfilzte, seine Kleidung starrte vor Dreck. Schon war er kaum noch von dem einäugigen Bettler zu unterscheiden, der sich im Schlepptau des Priesters von den Essensresten der Soldaten ernährte. Dieser armselige Tropf von einem Bettler schien die ganze Aussichtslosigkeit der Expedition zu verkörpern, die man mit Fug und Recht nicht als Armee bezeichnen konnte und die mit Sicherheit nicht in der Lage war, eine Stadt wie Jerusalem zu erobern. Wir sind wie dieser bemitleidenswerte Geselle, durchzuckte es Christofle beim Anblick des klapprigen armen Mannes, dem ein gütiges Schicksal versagt geblieben war. Denn auch wenn wir Kreuze auf unsere Schilde malen und »Nach Jerusalem!« brüllen, sind wir letzten Endes allesamt einäugige Bettler.
Nachts träumte er von Kunigunde.
Christofle war noch ein ganz junger Mann, als er in Liebe zu einem Mädchen namens Kunigunde entbrannte und sie zu ihm. Ihr Vater hatte sie ins Kloster gebracht, um dort das Gelübde der Alexandrier abzulegen und den Ring zu erhalten. In dieser Zeit waren sie und Christofle heimlich ein Liebespaar geworden, und als ihr Vater sie wieder abholte, hatte sie versprochen, ihm Nachricht zu schicken. Aber Wochen und Monate vergingen, ohne dass sie von sich hören ließ oder seine Briefe beantwortete. Nach einem Jahr qualvollen Wartens war Christofle restlos am Boden zerstört, als ihr Vater ihm mitteilte, Kunigunde sei nun verheiratet und er solle sie in Ruhe lassen. Daraufhin beschloss Christofle, sein Leben in den Dienst des Ordens zu stellen und allen weltlichen Vergnügungen zu entsagen.
Jetzt, dreißig Jahre später, fragte er sich, wozu das gut gewesen war. Das Leben eines Mannes beinhaltete mehr als einen mit seinem Namen verzierten Betschemel in einem Kloster, das niemand kannte. Während die Welt
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