Spur der Flammen. Roman
dort zu einzelnen Scharmützeln. Alarich, der mittlerweile abgesessen hatte, kämpfte zu Fuß, Mann gegen Mann. Als er gerade mit einem grimmig dreinschauenden Ungarn das Schwert kreuzte und einen Franken »Vorsicht, Herr!« rufen hörte, wirbelte er gerade noch rechtzeitig herum, um mit anzusehen, wie der einäugige Bettler einen Stich in den Bauch erhielt – einen tödlichen Angriff, der Alarich gegolten hatte. Der Mörder, ein Mann in einer roten Tunika und einem mit Hörnern bestückten Helm, ergriff beim Anblick von Alarichs mächtigem Schwert die Flucht.
Langsam verzog sich der Staub und gab den Blick auf das angerichtete Blutbad frei. Alarich, der kampfesgewohnte Krieger, hatte derart Schreckliches noch nie erlebt. Raben machten sich bereits daran, den Leichen die Augen auszupicken, und ein paar Frauen, die überlebt hatten, bahnten sich weinend einen Weg durch die Toten, hockten schluchzend im Dreck. Was hatte dies alles mit dem Begriff ehrenwert zu tun? Mit dem hehren Auftrag von Papst Urban?
Alarich spürte eine schwere Last von sich abfallen, so als hätte er sich seiner Rüstung entledigt. Sein Herz tat einen Sprung und spannte sich in seiner Brust, in seinen Adern pulsierte wieder frisches Blut, schwemmte das Gift hinweg. Es war ihm, als sei er aus einem langen Schlaf erwacht. Inmitten so vieler Toter fühlte sich Alarich vom Leben erfüllt wie niemals zuvor.
Er machte sich auf die Suche nach Christofle, der dem Massaker entkommen war, indem er sich in einem Zelt versteckt hatte. Alarich beugte das Haupt vor dem Mönch. »Weil ich so selbstsüchtig war und mich nur mit meinen eigenen Sorgen beschäftigt habe«, sagte er, »habe ich zugelassen, dass meine Leute abgeschlachtet wurden. Ich bin tief betroffen über das, was ich angerichtet habe. Guter Mönch, ich möchte meinen Bruder finden, aber nicht mehr, um mich zu rächen, sondern um ihn um Vergebung zu bitten und ihm zu vergeben. Das Leben ist zu wertvoll, um es mit Hassgefühlen auszufüllen. Nur fürchte ich, dass ich weder weiterziehen noch umkehren kann! Sagt mir, was ich tun soll, guter Mönch!«
Und dann hörte er, wie ihm der Wind wispernd seinen Namen zutrug: »Alarich …« Er folgte dem Ruf und entdeckte den einäugigen Bettler, der, obwohl kaum noch am Leben, die Klinge in seinem Bauch fest umklammert hielt. Und da dem Bettler der Hut vom Kopf gerutscht war, sah Alarich auch, dass das Haar des Einäugigen so flachsblond war wie sein eigenes. Und das gesunde Auge blau. Er nahm ihm die Augenklappe ab und schaute seinem Bruder ins Gesicht. Es schien ihm, als ob die ganze Welt verstummte.
»Ich bin dir gefolgt …«, keuchte Baudouin. »Ich schäme mich für das, was ich getan habe. Zur Sühne wollte ich an deiner Seite kämpfen.«
»Sprich jetzt nicht, Bruder«, brachte Alarich hervor.
»Ich wollte mich herausreden, dass sie mich verführt hat. Aber ich habe sie begehrt. Wir dürfen Margot keinen Vorwurf machen. Du warst so oft fort …«
Alarich schloss Baudouin in die Arme und drückte ihn an sich.
»Lange Feldzüge bringen mit sich, dass eine Ehefrau sich selbst überlassen bleibt, mein Bruder. Anstatt mich um Margot zu kümmern, war ich auf Beute und Ruhm aus. Alle drei sind wir an dieser Tragödie schuld, und gleichzeitig trifft keinen von uns eine Schuld.«
»Kannst du mir verzeihen?«
»Wenn du mir verzeihst.«
Einen langen Moment sahen sich die Brüder an. Dann tat Baudouin seinen letzten Atemzug. Alarich hob das Gesicht gen Himmel, ein markerschütternder Schrei entrang sich seiner Kehle. Er sprang auf und sah wild um sich. Wo war der Soldat in der roten Tunika und dem gehörnten Helm? Erneut flammten seine Rachegelüste auf, nur richteten sie sich diesmal gegen den Mörder seines Bruders. Er rannte los, lief kreuz und quer über das Schlachtfeld. Als er den Mann am anderen Ende erblickte, stürmte er auf ihn zu, mit pochenden Schläfen, das Herz hämmernd wie Hufschläge eines Streitrosses. Mit einem blutrünstigen Schrei schwang er sein breites Schwert. Der unbewaffnete Ungar duckte sich.
Und dann …
Ein gleißendes Licht. Es kam von nirgendwo und überall her, grell, bohrte sich in Alarichs Augen. Verwirrt sank er auf die Knie. Das Licht breitete sich aus, wurde noch heller, wirbelte und schwebte um ihn herum, wurde das Universum. Alarich fühlte sich so leicht, als schwebte er wie ein Adler, aber er sah kein Land unter sich, keine Menschen, keine Stadt. Nur Licht – kühl und besänftigend und ihn völlig
Weitere Kostenlose Bücher