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Spur ins Nichts - Ein Jack-Irish-Roman

Spur ins Nichts - Ein Jack-Irish-Roman

Titel: Spur ins Nichts - Ein Jack-Irish-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Temple
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besten Willen nicht als schlechte Nachricht betrachten.«
    »Das ist eine weit verbreitete Haltung. Aber sein Vater wüsste gern, wo er ist.«
    Chrissy hatte einen festen Blick. »Sogar Mistkerle haben Väter, nehme ich an. Aber ist es nicht ein bisschen spät für ihn, sich für Gary zu interessieren?«
    »Wie kommen Sie darauf?«
    »Na, die haben ihn doch rausgeworfen, als er noch ein kleines Kind war. Ihn in Pflege gegeben oder so was. Auf diese Hühnerfarm in Tasmanien. Das war wie eine Gefängnis-Farm, hat er gesagt. Die haben alle Zöglinge genommen, die sie nur kriegen konnten. Er hat oft davon erzählt, wie er im Dunkeln aufstehen und vier Stunden vor der Schule und vier Stunden danach arbeiten musste. Ich dachte immer, dass diese Erfahrungen ihn zu dem Scheißkerl gemacht haben, der er ist.«
    In Pflege gegeben? Auf eine Hühnerfarm nach Tasmanien? Das hörte sich für mich nicht glaubhaft an. Ich würde Des danach fragen müssen. »Sein Vater macht sich vor allem Sorgen um die sechzigtausend Dollar, die er Gary geliehen hat.«
    »Ah«, sagte Chrissy, »das hört sich schon mehr nach Gary an.«
    Ein Tor hinter dem Pool ging auf, und ein Mann erschien, ein schlanker Mann, kahlköpfig, der nur eine kleine, schlabberige Laufhose anhatte, dazu weiße Socken und Tennisschuhe. Sein dünner drahtiger Oberkörper glänzte von Schweiß. Statt gebräunt, war er eher rot verbrannt wie ein Goldfisch.
    »Die Tennismaschine hat das Handtuch verschluckt«, sagte Chrissy.
    Der Mann ging an den Rand des Pools, beugte sich hinunter, band seine Schnürsenkel auf, zog die Schuhe aus und schälte die Socken ab. Dann wandte er sich zu uns hin, sah auf, grüßte uns mit einem Winken aus der Hüfte, legte Shorts und Unterhose ab und kickte sie weg. Eine Weile lang stand er da und blickte in unsere Richtung. Dann drehte er sich um, ging in die Knie und sprang mit einem flachen Kopfsprung ins Wasser. Wie ein Düsenflieger mit heruntergelassenem Fahrwerk. Seine Arme bewegten sich schon, bevor er die Wasseroberfläche berührte, und dann verfiel er in ein müheloses rasches Kraulen, unterbrochen nur durch die Wettkampf-Wende am Ende des Beckens.
    »Ist das nicht ein bisschen kalt da drin?«, fragte ich.
    »Alan hat ein Faible für Fitness«, sagte Chrissy trocken. »Hilft ihm beim Einschlafen. Er schläft lange bevor ich zu Bett gehe.«
    »Ich habe eigentlich nur eine Frage, Mrs. Sargent. Es hört sich vielleicht albern an, aber wo würde Gary hingehen, wenn er Angst hätte, verzweifelt wäre, dächte, dass irgendjemand ihn umbringen wollte?«
    Chrissy nahm die Frage nicht ernst: »Jemand wie ich, meinen Sie? Haben Sie überhaupt eine Vorstellung davon, wie viele Leute Gary am liebsten umbringen würden? Das wäre wie beim Myer-Ausverkauf nach Weihnachten. Eingerannte Türen, nur um Gary umzubringen. Leute, die in der Menschenmenge zu Tode getrampelt würden.«
    »Also haben Sie keine Idee?«
    Sie betrachtete Alan, der durch das Wasser pflügte. »Männer sind verrückt«, sagte sie. »Ungefähr sechzig Sekunden verliebt in die Formen, wie man aussieht, was für Titten man hat. Können einen nicht wegen was anderem lieben.«
    Alan machte eine weitere Wende, tauchte wieder auf, wild um sich blickend. Lange Arme, die das Wasser teilten.
    »Außer meinem Dad«, sprach sie weiter. »Der war nicht so. Hat meine Mum geliebt. Die war fett. Er hat sie immer am Ohr berührt, so ein kleines Zupfen, das vergess ich nie. Hat mich an die Hand genommen und zur Schule gebracht. Das vergess ich nie. Ist schon mit achtundvierzig gestorben.«
    Wir saßen in dem weitläufigen verglasten Raum, das Haus märchenhaft teuer, Bedienstete, die irgendwo im Hintergrund warteten, eine schöne Frau, eine Haarkünstlerin mit einem harten Zug um den Mund und Bildern von einem Eternit-Haus in Broadmeadows im Kopf, traurigen Erinnerungen von einem Flecken gelbbraunen Rasens, einem Vater und einer Mutter und einem kleinen Mädchen. Die Arme umeinandergelegt.
    Unterhalb von uns ein reicher Mann, dünn, sämtliches Körperfett abgeschmolzen, der kämpfte: gegen sich selbst, gegen das Wasser, gegen das Alter, gegen die Unfähigkeit einzuschlafen, ohne körperlich erschöpft zu sein.
    Ich versuchte es noch einmal: »Hatte Gary kein Ferienhaus, von dem Sie wissen? So was in der Art? Irgendeinen Platz, an den er gegangen sein könnte?«
    Chrissy lachte. »Nein. Nicht zu meiner Zeit. Und sonst auch nie, würde ich sagen. Gary wüsste gar nicht, wie man Urlaub macht.

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