Spur nach Ostfriesland
einer Stunde bei ihm im Wagen, der immerhin Standheizung hatte. Das wortkarge Herumsitzen machte sie so wahnsinnig wie zuvor bei Gentners.
Wenn sie wenigstens ein Gespräch mit Constanze Gentner zustande bekommen hätte, aber die war irgendwie komplett abgedreht, hatte reglos in der Küche gehockt und nicht mal Piep gemacht. Ein Antippen hätte genügt, um sie vom Stuhl zu stürzen. Das würde sie Hartmann überlassen, damit er sie auch gleich auffangen konnte. Er schien sie aus unerfindlichen Gründen interessant zu finden, obendrein bekümmerte ihn die Tatsache, dass sie verheiratet war, offensichtlich herzlich wenig. Was vielleicht daran lag, dass es nicht allzu schwierig sein konnte, ihren Kotzbrocken von Ehemann auszustechen, wohingegen er sich an Marilene die Zähne ausbiss. Seine Miene, als die sich als Gentners Anwältin vorgestellt hatte, war Gold wert gewesen. Auf die Fahrt zur Jagdhütte hatte sie allerdings verzichtet, um nicht zwischen die unklaren Fronten zu geraten. Davon hatte sie selbst genug.
Paul sollte morgen zurückkommen. Er hatte die letzten beiden Tage nicht mehr versucht, sie zu erreichen. Vielleicht war er so weit, aufzugeben. Wollte sie das? Sie wusste es nicht. Manchmal mochte sie seine Art ganz gern, und dann wieder ging er ihr gewaltig auf den Keks. Wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass »ganz gern« weit entfernt von etwas wie Liebe war. Sie liebte ihn nicht. Oder doch? Hatte sie ihn vermisst? Schon. Irgendwie. Dennoch erschien ihr ein Leben ohne anstrengende zwischenmenschliche Komplikationen erstrebenswerter.
Gut, sie schätzte durchaus, dass Paul nicht viel Aufhebens um ihr vernarbtes Gesicht machte. Dass er locker war, manchmal regelrecht witzig. Aber sie hatte immer das Gefühl, dass er nur so tat, ihretwegen, um sie nicht zu verschrecken. Dass er eigentlich ein Ganz-oder-gar-nicht-Typ war. Sie spürte, ahnte vielmehr, dass er kurz davor stand, auf eben jenes Ganze zu gehen. Dafür war sie nicht bereit. Oder doch?
Sie vertrieb die nutzlosen Gedanken. Müßig, sich jetzt damit zu beschäftigen. Vielleicht konnte ja einfach alles bleiben, wie es war. Sie warf einen Blick zu dem Beamten neben ihr. Seine Augen waren halb geschlossen, und sie vermochte nicht zu erkennen, ob er döste oder tatsächlich noch wachsam auf Petersens Heimkehr wartete. Sie räusperte sich dezent. Er rührte sich nicht. Egal. Sie war da und weit entfernt von müde. Im Gegenteil, sie hatte Lust auf Ärger und wollte nichts lieber als eine Konfrontation, einerlei mit wem, solange es nicht Paul war. Dieser allzeit grinsende Pseudo-Pfadfinder käme ihr gerade recht.
Da! Sie beugte sich vor, um besser sehen zu können, und versetzte ihrem Begleiter einen reflexhaften Schlag auf den Oberschenkel.
»Uff«, stöhnte er, »war das nun Misshandlung Untergebener oder sexuelle Belästigung?«
»’tschuldigung«, murmelte sie. Sie hatte glatt vergessen, dass sie nicht mit Paul oder Jens im Wagen saß. Und nicht nur das, sie konnte sich auch beim besten Willen nicht entsinnen, wie der Kollege hieß. Bruno? Bernd? Boris? Nein, Boris eher nicht, daran würde sie sich erinnern. Egal, sie konzentrierte sich wieder auf den Kleinwagen, der gerade auf den Parkplatz von Petersens Haus gebogen war. Farbe und Fabrikat konnte sie nicht erkennen. War er das? Der Fahrer stieg aus. Doch, glaubte sie, die Größe kam schon hin.
»Roter Fiat. Das ist er«, bestätigte Mr. B. ihre Annahme. »Soll ich Hartmann anrufen?«
»Nein, der ist beschäftigt. Dafür bin ich ja da.«
»Und? Gehen wir rein?«
Was heißt hier wir?, dachte sie. »Lass uns eine halbe Stunde warten, damit er nicht auf die Idee kommt, dass er beobachtet wird.«
»Na gut«, grummelte er und sackte theatralisch in seinem Sitz zusammen.
Sie musste unwillkürlich lachen.
»Können wir uns dann wenigstens unterhalten«, erkundigte er sich, »oder müssen wir ein Schweigegelübde erfüllen?«
»Du hast doch geschlafen«, entgegnete sie.
»Hab ich nicht. Ich hatte nur den Eindruck, dass du, sagen wir, nicht allzu erfreut auf Small Talk reagiert hättest.«
»Das stimmt wohl«, gab sie zu, »und daran hat sich auch nichts geändert. Wenn du also übers Wetter reden willst, halt die Klappe.«
»Fußball?«, schlug er vor.
Sie bleckte die Zähne.
»Es ist aber auch kalt«, sagte er.
Sie warf ihm einen schrägen Blick zu und musterte ihn zum ersten Mal etwas genauer, so weit die spärliche Straßenbeleuchtung das zuließ. Anfang dreißig, schätzte
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