Spur nach Ostfriesland
in den Rücken fallen? Was bezweckte sie damit? Glaubte sie wieder mal, dass er nicht hinreichend offen ermittelte? Wenn sie glaubte, dass Gentner unschuldig war, befand sie sich auf dem Holzweg.
Er war bisher davon ausgegangen, dass Marilene sich eher auf die Seite der Schwachen schlug, der Opfer, nicht der Täter. Kam dazu, dass die Übernahme dieses Mandats die effektivste Kontaktsperre zwischen ihr und ihm war, die er sich vorstellen konnte. Vielleicht hatte sie genau das bezweckt? Er tat sich ganz schön leid, wenn er ehrlich war. Einem Typen wie Gentner jedenfalls würde nicht das geringste Anzeichen für eine unziemliche Beziehung entgehen, und auf den Ärger, den das verursachen würde, konnte er gut verzichten.
Zeit, sich anstehenden Aufgaben zuzuwenden, rief er sich zur Ordnung, fing Sprengers Blick auf und deutete stumm auf das Bücherregal. Der gab nickend sein Einverständnis, und so begann Hartmann, die Bücher einzeln zu entnehmen und auszuschütteln. Außer Staub und ein paar als Lesezeichen verwendeten Papierschnipseln gab der Haufen verstaubter Klassiker nichts her. Er nieste. Sprenger prüfte derweil den Dielenboden auf lose Bretter, ebenso vergeblich. Nichts. Scheiße! Oder auch nicht, er nieste wieder, wenn Franziska hier wäre, dann nur als Leiche.
»Okay Leute, das war’s dann wohl«, gab er das Zeichen zum Aufbruch. Er war enttäuscht, hatte so große Hoffnung in diese einsam gelegene Hütte gesetzt. Immerhin standen sie nicht ganz mit leeren Händen da. Er ging in den Windfang, stieg in seine tiefgefrorenen Stiefel und richtete sich wieder auf. Etwas knackte hörbar im Kreuz. Tat durchaus weh.
Marilene schien für einen Moment besorgt, bevor sie sich ihren eigenen durchweichten Stiefelchen mit so skeptischem Blick zuwandte, als erwöge sie, barfuß zu laufen. Sie wartete, bis alle anderen fertig waren, und zog sie erst dann an. Ihrer Miene nach zu urteilen, rechnete sie innerhalb von Minuten mit einer Lungenentzündung, und so trieb er zur Eile. Gentner blies die Öllampen aus und schloss hinter ihnen ab.
Der Rückweg ging in derselben Reihenfolge vonstatten. Er kam ihm kürzer vor, doch das mochte am gesteigerten Tempo liegen. Sie wollten alle nur noch ins Warme, und selbst Marilene achtete kaum darauf, wo sie hintrat, sondern hielt Anschluss an Sprenger. Binnen Minuten, nicht der gefühlten Stunden vom Hinweg, hatten sie die Fahrzeuge erreicht, und das Einzige, was jetzt noch einem ruhigen Feierabend im warmen Zuhause entgegenstehen könnte, wäre ein Achsbruch. Marilene glitt auf den Beifahrersitz, zog augenblicklich ihre Stiefel wieder aus und streckte die Füße in Richtung Heizung. Er tat ihr den unausgesprochenen Gefallen und drehte voll auf, bevor er sich daranmachte, die rumpelige Zufahrt rückwärts zu bewältigen.
Alles ging gut. Mittlerweile war es vollends dunkel, und ihm drohten nach dem ermüdend langen Tag die Augen zuzufallen. Marilene neben ihm schnarchte leise mit offenem Mund, und Gentner starrte unbewegt nach draußen. Kaum eine halbe stumme Stunde später hielt er vor Gentners Haus, ließ den Motor jedoch laufen. Die anderen Fahrzeuge waren verschwunden, demnach war der Einsatz wohl beendet.
»Schon da?«, nuschelte Marilene und rieb sich die Augen.
Er nickte. »Moment«, hielt er Gentner zurück, der bereits nach dem Türgriff tastete, »morgen Nachmittag um fünfzehn Uhr erwarte ich Sie im Polizeipräsidium.« Er hoffte, dass Paul bis dahin zurück war, zog es vor, die Vernehmung mit ihm durchzuführen, nicht mit Patrizia, der er in diesem Fall nicht zutraute, hinreichend sachlich zu bleiben. »Das ist eine offizielle Vorladung«, fuhr er fort. »Sie werden einvernommen wegen des Verbleibs der Franziska Eising und beschuldigt des Mordversuchs an Inka Morgenroth.«
»Wer ist –«, hub Gentner an.
Marilene würgte ihn mit einer schnellen Drehung des Kopfes ab. »Wir werden da sein«, erklärte sie.
»Ich verlasse mich darauf. Wenn Sie dann noch so freundlich wären, meine Kollegin Heyder rauszuschicken, falls Sie noch da ist, wäre ich Ihnen sehr verbunden. Einen schönen Abend«, wünschte er, die blanke Ironie, er konnte es sich nicht verkneifen. Er sah zu, wie Marilene sich in ihre Stiefel kämpfte, sich von Gentner verabschiedete und zu ihrem eigenen Wagen ging.
***
Patrizia war die Warterei auf Hartmann leid gewesen und hatte sich nach Niedernhausen mitnehmen lassen, um den auf Petersen angesetzten Beamten zu unterstützen. Sie saß bereits seit
Weitere Kostenlose Bücher