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Spur nach Ostfriesland

Spur nach Ostfriesland

Titel: Spur nach Ostfriesland
Autoren: Beate Sommer
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sagte er nur, nahm sie bei den Schultern und stellte sie aufrecht hin. Er strich ihr eine verirrte Haarsträhne aus dem hochroten Gesicht. »Sie schaffen das«, wiederholte er matt, bevor er endgültig den überstürzten Rückzug antrat.
     

13
    Marilene nieste, zum gefühlt dreihundertsten Mal an diesem Tag. Die Plastiktüte neben der Couch quoll über von nassen Taschentüchern – im selben Maß, wie ihr Vorrat an frischen schwand. Sie musste doch noch aus dem Haus, es half alles nichts. Zu einem Arztbesuch konnte sie sich nicht durchringen, aber es handelte sich ja auch nur um einen Schnupfen, beruhigte sie sich, Fieber hatte sich bislang nicht eingestellt. Ein Wunder nach der eisigen Odyssee zu der Jagdhütte.
    Gestern hatte sie sich noch nicht so schlecht gefühlt, erst am Abend, nach Gentners Vernehmung, hatten ihre Knochen zu schmerzen begonnen, vom Kopf bis hinunter in die Fußgelenke. Grässlich. Sie fand die ersten Anzeichen einer Erkältung meist schlimmer als die Krankheit selbst, hasste das schwammige Gefühl im Hirn und die schweren Glieder. Und das Gefühl, uralt zu sein. Nicht, dass sie sich im Augenblick jugendlich frisch fühlte. Ihre Nase musste aussehen wie die von Rudolph, dem Rentier, aber wenn sie nicht einen Tropfenfänger benötigt hätte, wäre sie trotzdem arbeiten gegangen. So allerdings war das ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, und sie hatte alle Termine abgesagt, um wenigstens heute zu Hause zu bleiben.
    Sie schlug widerwillig die Wolldecke zurück, stand auf und wankte ins Bad. Durch halb geschlossene Lider warf sie einen Blick auf ihr Spiegelbild und stöhnte. So konnte sie nicht aus dem Haus gehen, nicht mal zur Apotheke, die würden glatt einen Krankenwagen rufen. Sie legte Make-up auf und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, bevor sie die Augen vollständig öffnete. Das geht schon eher, dachte sie, fühlte sich gleich irgendwie menschenähnlicher und ging ins Schlafzimmer, um ihre Gammeljeans gegen etwas Anständigeres auszutauschen. Schließlich zog sie ihre daunengefütterte Kapuzenjacke an und die noch schneerandgezeichneten, aber immerhin trockenen Stiefelchen, die ihr die Erkältung erst eingebracht hatten, und verließ ihre Wohnung.
    Ihre Beine waren ein wenig wacklig, nicht wirklich treppentauglich, doch sobald sie unten angelangt war, die Haustür geöffnet hatte und ihr die Kälte um die Ohren schlug, schneidend wie ein plötzlich einsetzender Eissturm, fühlte sie sich merkwürdigerweise schlagartig besser. Schockgefrostet, aber klar im Kopf. Sie zog die Kapuze über, warf die Tüte mit ihren Bazillen in die Mülltonne und wandte sich Richtung Apotheke. Tief ein- und ausatmend, hey, sie hatte noch nicht mal geraucht heute, fiel ihr auf, ging sie mit langsamen Schritten die Straße entlang. Sie wünschte, die Luft wäre klarer und weniger abgasgesättigt, doch der Himmel war grau verhangen, und schon die Häuser eine Straße weiter verschwammen zu konturlosen Gemäuern. Sie erstand Taschentücher, Nasenspray und ein Röhrchen Vitamin C-Tabletten – viel trinken solle sie, gab die Apothekerin ihr mit auf den Weg – und ging wieder hinaus ins Freie.
    Etwas war anders. Sie vermochte nicht zu sagen, was. Ein seltsames, nicht greifbares Gefühl beschlich sie, einer kalten Hand gleich, die von hinten nach ihr griff und sie nicht mehr losließ. Sie drehte sich abrupt um. Nichts, jedenfalls nichts Ungewöhnliches, das ins Auge sprang.
    Die wenigen Fußgänger waren bis über die Nasen vermummt und schienen es ausnahmslos eilig zu haben, ihr Ziel zu erreichen. An der Bushaltestelle balgten sich ein paar Jugendliche, stoben auseinander, sobald der nächste Bus eintraf und stotternd Rußwolken ausstieß. Fahrzeuge schlängelten sich flüssig, doch ohne die übliche Hektik die Straße entlang, niemand stockte, um sich zu orientieren oder etwa Ausschau zu halten. Nach ihr. Ein ganz normaler Nachmittag.
    Trotzdem zog sie die Schultern hoch und raffte ihre Kapuze zusammen, als böte dies ausreichend Gewähr, nicht erkannt zu werden. Sie beschleunigte ihre Schritte, sich immer wieder umblickend, ob nicht doch jemand mitten in der Bewegung erstarrte oder sich an eine Hauswand drückte, um nicht aufzufallen, und eilte nach Hause, schon atemlos, wenn er kommt, dann laufen wir, wusste, noch der gemächlichste Verfolger würde sie mühelos einholen – und gemächlich wäre er wohl kaum, der Bote mit den langen Beinen. Aber am helllichten Tag?, zweifelte sie an ihrer eigenen
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