Spur nach Ostfriesland
Wochenende nochmals nach Leer fahren, denn es sah nicht so aus, als würde sie aus eigenem Antrieb ihren letzten Atemzug tun. Ihr Zustand sei kritisch, aber stabil, hatte man ihm, ihrem Bruder, mitgeteilt. Pech.
Er wandte sich dem anstehenden Problem zu. Sie stieg gerade in ihren Wagen. Er wählte ihre Handynummer. Es dauerte einen Moment, bis sie sich meldete.
»Es gibt etwas, das Sie über Martin Gentner wissen sollten«, sagte er.
»Wer sind Sie? Was soll das?«
»Jemand, der es gut mit Ihnen meint. Nein, im Ernst, ich bin Inka Morgenroths Bruder«, erklärte er. Warum sollte nicht wieder funktionieren, was im Krankenhaus in Leer so schön geklappt hatte. Abgesehen vom Ergebnis jedenfalls.
»Dann schießen Sie mal los.«
Beinahe hätte er laut gelacht. Genau das hatte er vor, aber gewiss nicht vor Zeugen. »Nicht am Telefon.« Er senkte konspirativ die Stimme. »Können wir uns treffen?«
***
Marilene zögerte. Einen Wildfremden? Woher sollte sie wissen, dass das keine Falle war?
Er schien ihre Vorbehalte zu spüren. »Natürlich unter Menschen«, sagte er. »Ich möchte, dass Sie sich sicher fühlen.«
»Na gut«, gab sie nach und überlegte fieberhaft, hier bestimmt nicht, viel zu wenig los an einem Mittwochnachmittag, und in Wiesbaden wäre ihr die Lage zu unübersichtlich. »Wie wäre Idstein?«, preschte sie vor, besser, sie diktierte die Bedingung, das war nicht weit, und es gab dort ein Café, in dem immer reichlich Betrieb war, sie wusste bloß nicht, wie es hieß. »Im Zentrum ist ein Brunnen, ich hoffe, es gibt nur den einen, auf jeden Fall sind Löwen drauf, treffen wir uns doch dort«, schlug sie vor, »und dann suchen wir uns ein Café.«
»Fein, in einer halben Stunde? Das müsste ich eigentlich schaffen. Sonst rufe ich Sie an. Aber kommen Sie allein, bitte.«
Sie hörte ein Lächeln in seiner Stimme, und irgendwie fand sie das beruhigend. »Gut, bis dann«, stimmte sie zu und beendete das Gespräch. Sie blieb einen Moment sitzen, bevor sie losfuhr, Zeit genug, sie würde kaum fünfzehn Minuten für die Fahrt benötigen. Oh Mist, sie hatte ganz vergessen, ihn zu fragen, woran sie ihn erkennen würde. Ach was, das machte nichts, bei der Kälte würden sicherlich nicht allzu viele Menschen am Brunnen auf ihre Verabredung warten.
Sollte sie wirklich fahren?, überlegte sie, plötzlich wankelmütig. Eigentlich wollte sie bloß nach Hause und ins Bett. Sie hatte ihren Teil getan, musste nur noch Lübben oder Zinkel informieren, dann ginge alles seinen Gang. Was immer Inkas Bruder über Gentner zu wissen glaubte, spielte jetzt, da sie den Täter mit ziemlicher Sicherheit identifizieren konnte, keine Rolle mehr.
Die Frage war nur, ob dieser Petersen, konfrontiert mit dem Vorwurf eines versuchten Mordes, in Bezug auf Franziskas Verbleib auspacken würde. Das hing vermutlich davon ab, ob sie noch lebte. Also war es vielleicht nicht so dumm, zu diesem Treffen zu fahren, denn wer Gentner kannte, würde möglicherweise auch etwas zu Petersen sagen können, und die Chance wollte sie sich nicht entgehen lassen. Außerdem war sie neugierig, gab sie zu. Ihre Vernunft hatte schon verloren, als sie anfing, abzuwägen. Sie ließ den Motor an.
***
Das hatte jetzt aber verdammt lange gedauert. Hatte sie es sich anders überlegt? Er fuhr ihr nach. Nein, sie schlug den Weg nach Idstein ein. Alles in Ordnung. Die Ampel in der Austraße stoppte ihn. Umso besser, dann würde sie ihn nicht entdecken und ihren Zweifeln womöglich doch noch nachgeben.
Er würde sie ein Weilchen warten lassen, nicht zu lange, aber doch so, dass sie keinen Rückzieher machte und den Café-Besuch unbedingt der Unterhaltung im Freien vorziehen würde. Ihre Idee, selbstverständlich. Das war der schwierigste Teil. Sein Plan würde nur funktionieren, wenn sie sich absolut nicht bedroht fühlte, bis sie im Café saßen. Je voller das war, desto besser. Niemand würde etwas bemerken. Auch sie nicht.
***
Scheiße, war das kalt. Marilene trat von einem Fuß auf den anderen und schlug die Hände gegeneinander. Die halbe Stunde war längst um, und er hatte sich noch nicht gemeldet. Sie schaute zum wiederholten Mal auf ihre Uhr. Fünf Minuten würde sie ihm noch geben, keine Sekunde länger, dann würde sie sich aus dem Staub machen. Ins Warme, flehte sie innerlich. Sie hoffte, dass sie sich hier keine Lungenentzündung holte. Sie hätte nicht herkommen sollen, verfluchte ihre Spontanität und ihre ewige Neugier, hätte wenigstens
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