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Spur nach Ostfriesland

Spur nach Ostfriesland

Titel: Spur nach Ostfriesland
Autoren: Beate Sommer
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von sich aus auf seine erste Frage zurückkommen würde.
    »Ist er der Entführer?«, wiederholte Lindenau und gab sich nachdenklich. Er wandte sich um und fixierte ihn mit seinen Katzenaugen. »Es wäre möglich«, sagte er, »es ist denkbar, dass er glaubt, nur dann eine Chance bei Frauen zu haben, wenn sie ihm nicht weglaufen können. Aber das ist eine reine Vermutung und entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage.«
    ***
    Hartmann stolperte atemlos auf die Lichtung, strauchelte und fing sich wieder. Das Wort Lichtung war der blanke Hohn! Er versuchte, sich zu orientieren, doch ein undurchdringlicher Nebel sickerte herab, als stünde dort oben jemand mit einem Trichter, um genau hier für beschissene Sicht zu sorgen. Eher rechts, vermeinte er, sich zu erinnern, oder nicht? Langsam und vorsichtig wagte er sich weiter, mit jedem Schritt durch die an der Oberfläche zu Eis erstarrte Schneeschicht krachend, donnergleich in seinen Ohren. Sicherlich würde der Nebel diesen Lärm schlucken. Wenigstens dämpfen, hoffte er. Oder Petersen hielte sich im Innern der Hütte auf. Aber das war gewiss ein Wunsch zu viel. Für da oben, missgünstiger Sack! Immerhin erhielt, was eben nur ein dunkler Schemen, allmählich Kontur. Die Hütte? Ja! Die Hütte, Vergebung, bat er. Nichts regte sich, keine Spur von Petersen, gar Marilene.
    Er schlug alle Vorsicht in die Windstille und rannte los, seine Beine wie Blei in den Schneelöchern, nicht schnell genug, spürte er, und war doch in wenig mehr als einem Blinzeln an der Hütte, drückte sich keuchend an die Bohlen und sog gierig die kalte Luft ein, beißend in der Lunge, stieß sie in Wolken wieder aus, verraten würden sie ihn, wären sie nicht augenblicklich unsichtbar, aufgegangen im Nebel. Das Ohr an die Wand gedrückt, lauschte er. Nichts. Absolute Stille. Totenstille. Ringsum. Hält die Welt den Atem an.
    Ein schwaches Flackern irrlichtert vor seinen Augen. Geisterhand. Nein, das Fenster, Flammenschein tanzt zuckend über zerfließende Eisblumen auf der Scheibe, reflektiert von der feuchten Luft, kein Geist. Der Kamin? Aber warum? Braucht er Wärme, Hitze, um zu morden? Eine der Öllampen? Bloß kein Feuer, bitte nicht. Er riskiert einen schnellen Blick, und jenseits des Heiligenscheins der Öllampe sieht er, wie Petersen Marilene eine Schlinge um den Hals legt, in liebevoller Zeitlupe, so, als handele es sich um kostbarsten Schmuck. Er duckt sich, weg, will das Bild nicht zulassen, das sich ihm bereits ins Hirn gefressen hat, was?!, brüllt es in ihm, Stakkato, was soll ich tun? Den Tod durch Erhängen, den kann er verhindern, seine Wut ist grenzenlos, reicht noch für stärkere Gegner, aber die Waffe auf dem Tisch, er wäre niemals schnell genug, kein sicherer Schütze, nicht, wenn Marilene in die Schusslinie geraten kann, wir brauchen ihn lebend. Er richtet sich auf, noch hält er sie, doch eine Hand greift schon nach dem anderen Ende des Seils, sie wehrt sich nicht, starrt blicklos zum Fenster, und das schmelzende Eis zeichnet Tränen auf ihre Wangen.
    In einer einzigen, verzweifelten Bewegung schlägt er mit dem Schaft seiner Waffe auf die Scheibe ein, dass sie in einem Feuerwerk von spitzen Splittern birst, sieht Petersens Kopf herumfahren, der Mund geöffnet zu einem Schrei, den er nicht ausstoßen wird, jetzt nicht mehr, zielt zitternd aus dem Handgelenk heraus. Drückt ab.
    Petersen fiel laut polternd zu Boden, ungelenk wie eine Marionette, deren Fäden gekappt wurden, wohingegen Marilene zeitlupengleich und lautlos hinuntersank. Es dauerte einen Moment, bis Hartmann wieder zu sich kam, am Haus entlang zum Eingang lief und die Hütte stürmte, seine Waffe im Anschlag. Petersen rührte sich nicht.
    Er ließ die Waffe sinken und beugte sich zu Marilene hinab. Ihre Augen waren geschlossen, als hätte sie es nicht ausgehalten, seinem stümperhaften Versuch, Petersen außer Gefecht zu setzen, zuzuschauen. Aber sie atmete, glaubte er wenigstens. Er legte ihr zwei Finger an den Hals, dorthin, wo er die Halsschlagader vermutete, und spürte das Pulsieren ihres Blutes, schwach und zäh, doch unbestreitbar lebendig. Er streifte ihr die Schlinge ab, das Sakrileg um ihren Hals, und richtete sich wieder auf.
    Petersen stöhnte und krümmte sich. Er stürzte zu ihm, bodenlos erleichtert, dass es ihm, egal, wie zufällig, gelungen war, nur zu verwunden, nicht zu töten.
    »Wo ist Franziska?!«, brüllte er, zu laut womöglich, denn just in diesem Augenblick erschlafften seine Züge,
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