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Spur nach Ostfriesland

Spur nach Ostfriesland

Titel: Spur nach Ostfriesland
Autoren: Beate Sommer
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Frau für Liebe zu gehen bereit ist, ob es dann noch Liebe ist, wenn sie sich erniedrigen oder auch nur verbiegen lässt. Gleichzeitig leidet er unter einem identitätsbasierten Konflikt, will sagen, sein Selbstbild ist an und für sich nicht das eines Mannes, der gern Frauen erniedrigt, er hat bloß das Gefühl, das tun zu müssen, weil er sonst nie herausfinden würde, ob er geliebt wird. So plagt ihn das, was wir ›Tyrannei des Solls‹ nennen, gleich in zweifacher Hinsicht.«
    »Der Arme«, entfuhr es Zinkel.
    Lindenau gab sich milde erstaunt, ob er lächelte, war hingegen nicht erkennbar. »Das ist er in der Tat. Unterschätzen Sie nicht die Macht der Psyche.«
    Niemals, dachte Zinkel. »Tyrannei des Solls«, wiederholte er den für ihn schwammigen Begriff, »wenn nun all diese Konflikte aufeinandertreffen, wie geht er damit um? Kommt er zu Ihnen und alles wird gut? Oder braucht er ein Ventil, denn er muss ja mächtig unter Druck stehen.«
    »Wir sind gerade erst in der Phase des Erkennens der Konflikte, von Aufarbeitung kann man da noch nicht reden. Was wissen Sie denn über die Frau, die er in seiner Gewalt hat?«
    »Anwältin, Anfang vierzig«, hub Zinkel an.
    »Das entspricht ganz und gar nicht seinem Beuteschema.« Lindenau klang verwirrt.
    »Ich fürchte, es geht auch nicht um Beuteschema«, erläuterte Zinkel. »Tatsächlich ist die Frau Zeugin für einen Mordversuch, den er unternommen hat.«
    »Nein, das ist ja furchtbar, das heißt ja, dass er praktisch gezwungen ist …« Er stockte, offensichtlich überwältigt von seiner Schlussfolgerung, und legte den Kopf in die Hand.
    Zinkel ließ ihm Zeit und schaute sich um. Im Gegensatz zu Amelungs Praxis war diese hier eindeutig männlich geprägt. Wenig Schnickschnack, keine Kleenex-Schachtel, stellte er amüsiert fest. Ein ausladender antiker Schreibtisch, an dem sie einander gegenübersaßen, eine zerschrammte lederne Couch, die geradewegs Freuds Büro zu entstammen schien, und Bücher über Bücher. Schon die Wände des Vorzimmers waren mit Regalen zugestellt, hier war das ebenso. Er konnte nicht erkennen, ob die Anordnung der Lektüre auf irgendeiner Systematik beruhte, entdeckte Frisch, meterweise Goethe und staubtrocken aussehende Fachbücher, aber auch Taschenbücher, deren Buchrücken verrieten, dass es sich um Krimis oder Thriller handeln musste. Die schiere Masse war erschütternd. Es roch nach einem süßlichen Pfeifentabak, und er vermutete, dass Lindenau hier auch einen beträchtlichen Teil seiner Freizeit zubrachte. »Haben Sie eine Toilette?«, erkundigte er sich.
    Lindenau hob den Kopf. »Natürlich. Die Tür im Vorzimmer.«
    Als er zurückkam, hatte Lindenau den Lamellenvorhang geöffnet und stand am Fenster. Viel gab es da nicht zu sehen, erkannte Zinkel, alle Farben verkamen heute zu grau, und es wurde bereits dunkel.
    »Ich kann mir das nicht erklären«, sagte Lindenau. »Ich hätte nie gedacht, dass er überhaupt gewaltbereit ist, geschweige denn, dass er versucht, jemanden zu ermorden. Das, wovon ich gesprochen habe, spielt sich im psychosozialen Kontext ab und hat mit körperlicher Gewalt nichts zu tun. Die Frage ist natürlich, wie jemand mit seiner Disposition reagiert, wenn er sich in die Enge getrieben fühlt. Ich wünschte, ich wüsste es. Ich würde Ihnen gern helfen, diese Frau zu retten, aber ich kann mich nicht an den kleinsten Hinweis erinnern, der uns weiterbringt. Ich weiß nicht, wo er stecken könnte.«
    »Der Mordversuch betrifft jemanden, den Sie kennen. Inka Morgenroth war kurzzeitig bei Ihnen in Behandlung.«
    »Inka, ich erinnere mich. Sie war aber nur einmal hier, nachdem sie entführt worden war. Petersen war scharf auf sie, er hat sie auf einer Fortbildung kennengelernt, aber dann hat Martin sie ›unbrauchbar‹ gemacht, wie Petersen sagt. Warum sollte er sie ermorden wollen?«
    »Das frage ich Sie. Ist er der Entführer? Hat er mit Ihnen darüber gesprochen? Hat Inka mit Ihnen über ihre Entführung geredet? Konnte sie sich zu der Zeit vielleicht noch erinnern?«
    »Nein, das wäre bei PTBS auch relativ unwahrscheinlich.«
    Angeber, dachte Zinkel, selbst er wusste inzwischen, dass die Abkürzung für Posttraumatische Belastungsstörung stand. »Von Inkas Therapeutin weiß ich, dass sie Flashbacks durchlebt hat.«
    »Das ist nun wieder nicht so ungewöhnlich, wobei traumatisierte Menschen den Realitätsgehalt dieser Flashbacks allerdings schwer einschätzen können.«
    Zinkel schwieg, wartete, ob Lindenau
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