Spur nach Ostfriesland
entwich ihm ein letzter Atemzug, ein Seufzen nur. Hartmann schloss frustriert die Augen, er hatte versagt, elendiglich versagt. »Wo ist Franziska?«, flüsterte er und wandte sich ab.
Er trat zu Marilene, hob sie auf die Arme und wankte nach draußen. Wie durch Watte vernahm er Sirenengeheul, zu spät.
***
»Dein Mann ist der Hausherr, und als dieser wird er seinen Willen stets mit Fairness und Aufrichtigkeit durchsetzen. Du hast kein Recht, ihn in Frage zu stellen.«
Sie konnte dem Inhalt des Satzes nicht mehr folgen. Je öfter sie ihn hörte, desto mehr entzog sich ihr der Sinn. Das durfte nicht geschehen. Sie wusste, dass sie diesen Raum nicht verlassen würde, wenn sie sich gegen die Botschaft sperrte. Wenn sie den Gehorsam verweigerte.
Aber ich habe keinen Mann, dachte sie mit einem leisen Anflug von Panik. Hieß das, dass sie Peter heiraten musste? Hatte Peter womöglich ihre Entführung in Auftrag gegeben, damit sie endlich einwilligte? Egal, wenn es sein musste, würde sie ihm hier unten das Jawort geben. Wenn es um einen anderen Mann ging, war auch das egal. Sie würde jeden heiraten. Nur bitte bald. Sie hielt das hier nicht mehr lange aus. Ihr war, als würden die Wände zusammenrücken. Der Raum drohte, sie zu ersticken. Das bildest du dir ein, sagte sie sich. Immer wieder. Bis auch diese Worte ihren Sinn verloren.
Sie war so unendlich müde. Sie schlief nicht. Schlaf war unmöglich bei dem Licht, dem Gequassel. Es war immer hell. Und laut. Sogar, wenn sie die Augen zumachte, blendete das Licht. Und das zusammengerollte Klopapier taugte als Ohrstöpsel auch nicht besonders. Kitzelte zu sehr. Natürlich konnte es nicht stimmen, dass sie nicht schlief. Denn dann hätte sie sehen müssen, wie jemand ihr Essen hereinstellte. Das war bisher nicht vorgekommen. Ihr langweiliges Essen lag einfach irgendwann auf dem Boden, ohne dass sie etwas gehört oder gesehen hätte.
Vielleicht konnte ihr Entführer zaubern? Nein, überlegte sie, es musste eine Kamera geben. Sonst könnte er nicht wissen, dass sie gerade schlief. Und wenn sie nicht mehr schlafen würde, bekäme sie nichts zu essen. Sie hatte Hunger, es wäre also gut, wenn sie die Gedanken endlich abstellen und wegdämmern könnte.
Sie wünschte, sie hätte einen Stift und Papier. Dann könnte sie um anderes als das immergleiche Brot bitten. Sie konnte es nicht mehr sehen, aß es nur, um bei Kräften zu bleiben. Nein, das war falsch. Um nicht völlig kraftlos zu werden. Sie hätte trainieren müssen. Sie wusste das, konnte sich aber nicht dazu durchringen. Es schien der Mühe nicht wert. Wenn er der Meinung war, dass sie etwas tun sollte, könnte er die Anweisung ja erteilen. Warum schaffte sie es nicht von sich aus? Sie war eigentlich nicht unsportlich. Jedenfalls nicht total. Es war ihr schon wichtig, wie sie aussah. Wichtig gewesen. Das konnte nicht in seinem Sinne sein, oder?
Was, wenn sie sich doch irrte. Wenn es nicht darum ging, sie nach diesem Benimmkurs wieder freizulassen? Wenn es sich nur um eine perverse Form von Folter handelte? Und dann … Was dann? Was hatte er wirklich vor? Sie stützte sich auf die Ellbogen und starrte auf die Tür, als müsse von dort eine Antwort kommen.
Es kam keine. Sie ließ sich wieder zurücksinken. »Dein Mann ist der Hausherr …« Sie stöhnte leise, sicherlich kaum hörbar. Seit wann lief dieser Spruch? Es kam ihr viel länger vor als bei den anderen davor. Aber sie hatte jegliches Zeitgefühl längst verloren. So, wie sie sich fühlte, würde sie vermuten, dass sie schon ewig hier war, Monate mindestens. Das wäre natürlich kontraproduktiv, dachte sie. Sie bezweifelte, dass Peter so lange auf sie warten würde. Vielleicht erkannte er sie nicht mal mehr. Vielleicht würde sie sich selbst nicht erkennen. Sie musste furchtbar aussehen. Sie hatte den Spiegel im Bad nicht gereinigt, um sich ihren Anblick zu ersparen.
Sie besah sich ihre Hände. Verdammt käsig. Sie war kein Sonnentyp, wurde eher rot als braun, aber das war jetzt echt nicht mehr schön. Richtig durchsichtig. Wie lange konnte man ohne Sonne überleben? Wollte man? Vielleicht, wenn man vergaß, dass es etwas anderes als diese grelle Lampe gab. Und der Mond. Den Mond mal wieder zu sehen wäre unfassbar schön. Dann würde sie schlafen können, ganz bestimmt. Und nie wieder würde sie einen Vorhang zuziehen, um die Nacht auszusperren. Oder den Tag. Nie wieder.
Ein Schluchzen lauerte in ihrer Kehle. Nein, schluck’s runter, befahl sie sich.
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