Spur nach Ostfriesland
Martin das Wichtigste daran zu sein, der Beifall. Nun, jetzt hatte es sich ausgeklatscht. Als Martin Inka fertiggemacht hatte, obwohl er ihn gebeten hatte, das zu unterlassen, war alles anders geworden.
Zurück im Hauptraum öffnete er eines der Fenster, stieß den Fensterladen auf und schloss das Fenster wieder, stellte die Lampe aufs Fensterbrett. Dann knüpfte er einen Henkersknoten ins Tau, stieg auf den Tisch, warf das andere Ende über den freiliegenden Balken und zurrte es fest. Er ging nach draußen, um die Anwältin hereinzuholen. Martins Anwältin. Das war das Beste daran.
Wenn Martin ihm nicht von ihr erzählt hätte, wie er beabsichtigte, sie vorzuführen, wäre er nie dahintergekommen, dass sie die Zeugin in Leer gewesen war. Aber er war neugierig geworden und hatte sie gegoogelt. Er hatte sie sofort wiedererkannt. Sie musste weg, und Martin würde dafür büßen. Zwei Morde. Da würde er sich nicht mehr herauswinden können. Er musste nur noch dafür sorgen, dass Martin am nächsten Wochenende unauffindbar wäre und somit offiziell in Leer sein konnte. Oder er nahm ihn überhaupt mit dorthin, damit er zur Abwechslung mal ihm zusah, wie er ein Problem beseitigte. Und ihm applaudierte. Dann erst würde er der Polizei einen Hinweis zukommen lassen, wo die Anwältin war.
***
»Ich darf Ihnen keine Auskunft geben. Schweigepflicht.«
»Ich glaube, Sie verkennen die Umstände«, widersprach Zinkel, »ein Menschenleben steht auf dem Spiel. Genau genommen zwei.«
Lindenau war bislang jeder Frage geschickt ausgewichen und hatte nicht mal zugegeben, dass Petersen sein Patient war. Klient, hatte er Amelungs Stimme im Ohr, und nicht von ungefähr. Lindenau erschien ihm ähnlich schräg und entsprach nicht im Geringsten der Vorstellung, die er von ihm gehabt hatte. Er war groß und schwer, ein ordentlicher Bauch spannte seinen zerrupft wirkenden grauen Pullover, sein dunkelblondes Haar fiel ihm strähnig fast bis auf die Schultern, und ein Vollbart verdeckte einen Großteil seines Gesichts. Er wirkte wie der absolute Gemütsmensch, doch den wachen blassgrünen Augen schien nicht viel zu entgehen. Was ihn aber wirklich umwarf, war das melodische Timbre seiner Stimme, die allein schon Verständnis und Mitgefühl suggerierte und garantiert jede Frau, bis auf die eigene und sofern sie an Geschmacksverirrung litt oder blind war, betören würde. Beneidenswert.
Lindenau seufzte. »Gut, was wollen Sie wissen?«
»Wie er tickt. Vielleicht lässt sich daraus schließen, was er mit den Frauen macht und wo das vonstattengehen könnte.«
»Was wissen Sie denn bis jetzt über ihn?«
»Herzlich wenig. Finanzbeamter, Single, möglicherweise ausufernde Weibergeschichten, pflegt eine enge Freundschaft mit jemandem, den manche Zeitgenossen als Kotzbrocken beschreiben.«
»Martin, ja. Er ist ein durchaus beherrschendes Thema in unseren Sitzungen. Sie sind alte Freunde, ich glaube, von Kindheit an. Martin war der Tonangebende, Martin hat immer bestimmt, wo es langging.«
»Den kennen Sie auch?«, erkundigte Zinkel sich.
»Schon, ja. Seine Frau war bei mir in Behandlung. Aber das weiß Petersen nicht, wir sprechen immer nur über Martin, und auch das erst, seit ihm der Name mal herausgerutscht ist. Vorher handelte es sich um ›meinen Freund‹.«
»Petersen bewundert ihn sehr, oder?«, fragte Zinkel.
»Er vergöttert ihn, wenn ich das so überspitzt formulieren darf. Einerseits. Auf der anderen Seite will Petersen sich gegen ihn auflehnen, weil er zunehmend in sein Territorium eindringt. Das hat Petersens Weltbild gehörig erschüttert.«
»Verstehe ich nicht«, bekannte Zinkel.
»Der Begriff Alphatier sagt Ihnen etwas?« Lindenau wartete nicht auf eine Reaktion, bevor er fortfuhr. »Es gibt aber auch, und das ist weniger bekannt, Betatiere und Omegatiere, um die Bandbreite der Hierarchien abzudecken. Hier haben wir es, im übertragenen Sinne, mit einem Alphatier auf der einen, und einem Omegatier auf der anderen Seite zu tun. Keine fruchtbare Kombination. Weil der Puffer fehlt.«
»Mit welchen Folgen?«
»Das ist situativ bedingt und äußerst variabel. Zum einen gibt es einen Zielkonflikt, das heißt, Petersen empfindet einen Gegensatz zwischen ihrer beider Interessen. Es geht natürlich um die Frauengeschichten. Wo Martin erniedrigen und nicht besitzen will, würde Petersen lieber besitzen und zunächst nicht erniedrigen.«
»Wieso zunächst?« Jetzt wurde es spannend.
»Ihn treibt die Frage um, wie weit eine
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