Spurlos in der Nacht
um, und sie wusste, dass es nicht so weitergehen konnte, dass alles ein Ende nehmen musste. Dass es eigentlich keine Hoffnung gab. Plötzlich fiel ihr Blick auf ihre Krücken, die in der einen Ecke an der Wand lehnten. Für einen Moment sah sie sie als Waffen. Sie hatte sie am ersten Tag benutzt, hatte mit aller Kraft zugeschlagen. Vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung. Aber nicht jetzt. Nicht jetzt und noch lange nicht. Vielleicht nie.
54
Cato Isaksen lief den kleinen Waldweg hinunter. Er hatte mal wieder Alf Boris Moen verfolgt. Diesmal war der nicht zum Sognsvann gefahren, sondern nach Basrum. Nach Vestmarka. Er hatte auf einem kleinen Parkplatz gehalten, auf dem kein weiteres Auto gestanden hatte. Dann hatte er einen grünen Rucksack umgeschnallt und war in den Wald gegangen. Cato Isaksen wartete, bis der andere hinter einigen Bäumen verschwunden war, dann sprang er aus dem Wagen und lief ihm hinterher. Er ahnte den Rücken des anderen ein Stück vor sich, verlor ihn dann aber plötzlich aus den Augen. Moen war wie vom Erdboden verschluckt. Cato Isaksen blieb stehen und lauschte. Dann ging er über den schmalen Waldweg weiter. Er glaubte plötzlich, irgendwo zwischen den Bäumen eine Bewegung zu registrieren. Am Boden wuchs allerlei hohes Unkraut. Er ging in die Hocke, zog den Kopf ein und horchte, aber er hörte nur hier und da kleine Vögel und Krähen, die die Luft mit ihrem schrillen Geschrei zerrissen. Ansonsten war es ganz still. Der Abend war drückend und bewölkt. Plötzlich hörte er etwas. Für einen Moment glaubte er, jemanden reden zu hören. Er fuhr zusammen, als zwei junge Frauen plötzlich auf Fahrrädern um die Kurve bogen. Sie erschraken ebenfalls, als sie ihn am Waldrand hocken sahen. Er richtete sich auf und ging mit raschen Schritten weiter. Er lächelte den Frauen entwaffnend zu, als sie vorüberfuhren, und er hörte, wie sie daraufhin loslachten.
Als er um die Kurve bog, lag eine offene Landschaft vor ihm. In der Ferne sah er zwei Häuser. Ein Stück von ihm entfernt tauchte eine ältere Frau in einem mittelblauen Mantel aus dem Wald auf. Ein Jogger war mit einem Hühnerhund unterwegs, der sofort auf den Ermittler zulief und ihn neugierig beschnüffelte, ehe er weiterjagte. Alf Boris Moen war nicht zu sehen. Cato Isaksen fror.
Es wurde Herbst. Die Tage waren von der klaren kühlen Luft am Morgen und am Abend eingerahmt. Die Sonnenstreifen lagen mitten am Tag lang und scharf über der Landschaft. Die Nächte waren kalt und dunkel.
Die Zeit verging. Die Tage, die Nächte, die Stunden und die Minuten. Kathrine Bjerke war am 20. Februar verschwunden. Das war nun fast ein halbes Jahr her. Es konnte wirklich alles Mögliche geschehen sein. Vielleicht hielt sie sich freiwillig in Schweden auf und spielte mit ihnen Katz und Maus. Das war möglicherweise die wahrscheinlichste Lösung. Trotzdem stimmte etwas nicht, auch wenn die Schrift auf der Karte echt gewesen war. Die SMS, die aus derselben Gegend gekommen war, hatte die Theorie, dass Kathrine nicht tot war, noch verstärkt. Warum konnte er sich also nicht mit dem Befehl seiner Vorgesetzten abfinden und die Zeit für eine Aufklärung sorgen lassen? Solche Jugendliche tauchen immer wieder auf, hatte Myklebust gesagt. Die meisten anderen hatten ihr zugestimmt. Es lag auf der Hand, dass Kathrine ihre Großmutter erschossen hatte. Aber Helena Bjerke hielt das für vollkommen unmöglich. Und Mütter hatten in der Regel recht.
An einem Samstag, als Cato Isaksen allein zu Hause war, weil Bente ihre Freundinnen besuchte, trank er ein wenig zuviel. In diesem Zustand sprach er mit dem Kater. Er ärgerte sich über seine eigene Stimme. Er war wütend darüber, dass er die Stille zerstört hatte. Er ärgerte sich noch mehr, als der Kater zu ihm hochschaute und leise und klagend miaute. Das Tier schien ihn zu verstehen. «Es ist Nacht», sagte er streng. Marmelade verstummte, machte kehrt und verkroch sich unter dem Sofa. Vor seinem Verschwinden schaute er ihn noch aus seinen gelben Augen an.
Cato Isaksen wählte Ellens Handynummer. Er wusste, dass sie das Telefon ausschaltete, ehe sie schlafen ging, deshalb musste er nicht befürchten, sie vielleicht zu wecken. Es klingelte eine Weile, ehe Ellen sich meldete. Er hörte Stimmen im Hintergrund und wusste damit, dass sie nicht allein war. Natürlich war sie nicht allein. Sie war doch verheiratet, zum Henker. Sie war außer Atem und lachte, wurde aber sofort ernst, als sie hörte, wer da
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