Spurlos in der Nacht
weiß ich das nicht. Und ihr Mann war immer viel krank. Er hatte Angstzustände und brauchte viel Zuwendung. Sie müssen sich doch an den Fall erinnern? Es war schrecklich für Solveig. Es kam doch in den Nachrichten und in den Zeitungen und überhaupt.»
Cato Isaksen wartete gespannt. Er versuchte ganz ruhig zu atmen.
«Es war natürlich nicht richtig von ihr. Das finden wir doch alle», erzählte Tulla Henriksen weiter. «Aber die Arbeitsbelastung war so hoch. Krankenschwestern hatten immer schon viel zuviel zu tun.»
Sie stand auf und schlug mit einer rosa Spitzenserviette nach einer Fliege, die im Fensterrahmen herumsummte.
«Es wird schön, dieses Ungeziefer loszusein», sagte sie. «Jetzt, wo der Herbst kommt, sterben sie glücklicherweise.» Wieder klingelte das Telefon. «Das ist sicher Solveig», sagte sie und wollte den Hörer abnehmen.
«Gehen Sie nicht ran», sagte Cato Isaksen spontan. «Jetzt setzen Sie sich und erzählen mir alles.» Er machte eine ungeduldige Handbewegung, und Tulla Henriksen blieb mitten im Zimmer stehen und starrte noch einen Moment lang das Telefon an, dann gehorchte sie und setzte sich brav.
«Darf die Polizei wirklich alles fragen, was sie will?»
«Ja», sagte Cato Isaksen. «Wirklich alles.»
Nach dem achten Klingeln verstummte das Telefon und die alte Dame erzählte weiter. «Solveig hat einige Male die Kranken zu hart angefasst», sagte sie. «Ich glaube aber eigentlich nicht, dass es so schlimm war, wie die Zeitungen es seinerzeit berichtet haben.»
Langsam ging Cato Isaksen ein Licht auf. Er konnte sich an so einen Fall erinnern, wenn er genauer nachdachte. Und was hatte Solveig Wettergren noch gesagt, als er sie damals zu Hause besucht hatte: «Obwohl ich Krankenschwester von Beruf bin und zehn Jahre im Krankenhaus Ullevål gearbeitet habe. Aber eigentlich hat diese Arbeit mir nie gelegen.»
Tulla Henriksen erzählt weiter: «Der Sohn einer Patientin, einer Neunzigjährigen, hatte in ihrer Nachttischschublade ein Tonbandgerät versteckt. Solveig wusste nicht, dass alles, was sie sagte, aufgenommen wurde. Und als der Sohn am folgenden Tag mit dem Tonband anrückte, enthielt das allerlei Beschimpfungen. Er ging mit der Sache an die Zeitungen. Die arme Solveig hat die Arbeitsbelastung einfach nicht ertragen. Es liegt am System, wissen Sie. Und ich glaube nicht, dass es sich inzwischen gebessert hat.»
Cato Isaksen mußte diese Informationen erst verdauen. Für einen Moment war er unsicher. Sollte er Tulla Henriksen mit auf die Wache nehmen und die Vernehmung dort fortsetzen?
«Wann war das?», fragte er.
«Ich glaube, 1975.»
«Und Brenda», fragte er. «Warum hat sie aufgehört?»
«Sie war ganz einfach erschöpft», sagte Tulla Henriksen. «Sie und ich hatten nichts mit Solveigs Geschichte zu tun. Aber natürlich haben wir zu ihr gehalten. Dafür sind Freundinnen doch da. Und die arme Solveig war wirklich unglücklich. Brenda und ich sind erst vor acht oder zehn Jahren in Rente gegangen. Wir haben in der Kantine gearbeitet. Wissen Sie, wie anstrengend diese Arbeit ist? Wir fingen um sechs Uhr morgens an und hatten zwischen drei und vier Uhr Feierabend. Eigentlich hätten wir schon um zwei Uhr fertig sein sollen, aber meistens schafften wir das erst so gegen drei oder vier Uhr. Aber meinen Sie, wir wären für diese Überstunden bezahlt worden? Aber nicht doch. Da mussten riesige Kessel gesäubert werden, Kartoffeln waren zu schälen, Brote zu schmieren. Wir mussten den Abwasch erledigen und die Böden putzen. Sie haben ja keine Ahnung. Eigentlich wäre das Männerarbeit gewesen. Aber glauben Sie, irgendein Mann hätte da arbeiten wollen? Aber nicht doch.»
Cato Isaksen empfand ein starkes Unbehagen beim Gedanken daran, was er hier über Solveig Wettergren erfahren hatte. Er wollte jetzt ganz schnell fort. Rasch schaute er auf die Uhr. Er hatte genügend Zeit, um noch am selben Tag diese neuen Informationen zu überprüfen. Er bedauerte, ein wenig schroff gewirkt zu haben, sagte aber, in einem dermaßen schwerwiegenden Fall müssten einfach alle Karten auf den Tisch. Tulla Henriksen murmelte vage, das könne sie ja verstehen. Er wusste, dass sie ihre Freundin sofort anrufen würde, sowie er aus der Tür war.
56
Rasch fuhr Cato Isaksen zurück zum Polizeigebäude. Er grüßte auf dem Gang kurz Asle Tengs, dann lief er in sein Büro und schloss die Tür hinter sich. Dann erledigte er einige Anrufe. Informationen über so lange zurückliegende Fälle
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