Spurlos in der Nacht
allem etwas übersehen.
Nach zehn Minuten kam Tulla Henriksen mit offenem Mantel über die Straße gelaufen.
Sie blieb stehen, als sie ihn im Auto entdeckte. Cato Isaksen war hinter der Zeitung versteckt. Sie klopfte leise ans Fenster.
«Ach was», sagte sie, als er das Fenster geöffnet hatte. «Was ist denn los?»
«Ich komme mit Ihnen nach oben, wenn Sie nichts dagegen haben», sagte der Ermittler und stieg aus dem Wagen. Er faltete die Zeitung zusammen, warf sie auf den Fahrersitz und schloss die Tür ab.
«Wir freuen uns ja so auf den großen Tag», plapperte sie, als sie die Treppen hochgingen. «Solveig ist vor einer halben Stunde von hier losgefahren. Und in der Zwischenzeit hab ich schnell etwas zu essen gekauft. Jetzt sind es nur noch ein paar Tage.» Sie plapperte und plapperte, über Gott und die Welt. Cato Isaksen nahm ihr die Plastiktüten ab und trug sie für sie nach oben. Er ließ sie noch zehn Minuten weiterplappern, bis er sich einschaltete und auf den Grund seines Kommens zu sprechen kam. Er bat sie, von damals zu erzählen, als Brenda, Solveig und Tulla im Krankenhaus gearbeitet hatten. «Sie waren doch viele Jahre lang miteinander befreundet», sagte er.
«Herrgott, viele Jahre», wiederholte sie. «Dreißig Jahre müssen das sein, seit wir uns kennengelernt haben. Ja, damals waren wir wohl alle um die vierzig.»
«Und wie haben Sie sich kennengelernt?»
«Im Krankenhaus. Es war der pure Zufall. Brenda und ich arbeiteten in der Kantine. Ich war am längsten dort. Ich war wohl schon fünfzehn Jahre da, als Brenda anfing. Aber jetzt bin ich ja schon seit acht Jahren in Rente. Und Brenda hatte zwei Jahre vor mir aufgehört.»
«Und Solveig Wettergren?»
«Ach, Solveig war Krankenschwester.»
«Wann hat sie aufgehört?»
Tulla Henriksen rutschte nervös hin und her. «Ich weiß nicht mehr genau in welchem Jahr, aber es war lange vor uns.»
«Warum hat sie aufgehört?» Cato Isaksen hielt ihren Blick fest.
Tulla Henriksen stand auf, ging in die Küche und holte eine orangenfarbene Thermoskanne, die mit braunen Blumen bedruckt war. Sie füllte die Tasse des Ermittlers und drehte energisch den Deckel wieder fest. Ihm fielen ihre langen feuerroten Fingernägel auf.
«Dieser Kaffee stammt von heute morgen», sagte sie. «Aber Sie müssen sich eben damit zufrieden geben.» Sie holte auch für sich eine Tasse.
«Solveig ist kein schlechter Mensch», sagte sie dann abrupt. «Aber damals ist einfach alles zusammengekommen.» Sie verstummte kurz und musterte ihn abweisend. «Sie hat genug gelitten für das, was damals passiert ist.»
Cato Isaksen nickte langsam und trank einen kleinen Schluck Kaffee. Tulla Henriksen ging offenbar davon aus, dass er wusste, wovon sie hier redete.
«Aber was hat das mit Ihrem Fall zu tun?», fragte sie plötzlich.
Cato Isaksen würde hier vorsichtig vorgehen müssen. Vielleicht würde er jetzt etwas Wichtiges erfahren. Ihn überkam ein Gefühl von Ekel. Er verfluchte das Telefon, das plötzlich losklingelte. Er wusste sofort, dass Solveig Wettergren anrief.
«Die Polizei ist hier», sagte Tulla Henriksen und kehrte ihm den Rücken zu. «Nein, ich glaube nicht, dass es etwas Neues gibt», fügte sie hinzu. «Aber er fragt nach dieser Sache mit dir. Nach der Sache, wegen der du damals gehen musstest.»
Cato Isaksen hätte ihr den Hals umdrehen können. Er erhob sich halbwegs und versuchte, sie zum Auflegen zu bewegen.
«Bitte», sagte er, aber Tulla Henriksen winkte ab. «Ja», sagte sie, «das ist in Ordnung», sagte sie dann endlich. Dann legte sie auf und drehte sich zu ihm um. Ihr dünnes, runzliges Gesicht sah jetzt abweisend aus. Ihre blauen Augen wirkten trübe. Er kannte diesen Blick von seiner eigenen Mutter.
«Solveig war wütend», sagte Tulla Henriksen und schaute ihn vorwurfsvoll an.
«Ach?»
«Können Sie mir verraten, was das mit Ihrem Fall zu tun hat?»
Cato Isaksen beschloss, ihr die Wahrheit zu sagen. «Eigentlich nicht. Ich habe nämlich keine Ahnung, wovon Sie reden», antwortete er. «Und Sie haben jetzt die Wahl. Entweder erzählen Sie mir hier und jetzt alles oder wir fahren zusammen auf die Wache und setzen die Vernehmung dort fort.»
Tulla Henriksen holte tief Atem. Sie hob zitternd die Tasse mit dem lauwarmen Kaffee zum Mund.
«Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll», begann sie dann. «Solveig hatte sehr strenge Eltern. Der Vater war Geistlicher. Sie hat einmal erwähnt, dass sie als Kind geschlagen wurde, aber genau
Weitere Kostenlose Bücher